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Eine Gesellschaft im Umbruch

Teheran, zu Beginn der Bewegung «Frau, Leben, Freiheit»: Kaum ist Iman am Revolutionsgericht aufgestiegen, kämpft er wegen der landesweiten Proteste zunehmend mit Misstrauen. Als seine Dienstwaffe verschwindet, ergreift er gegen Frau und Töchter drastische Massnahmen. Der Filmemacher Mohammad Rasoulof erzählt in «The Seed of the Sacred Fig» mutig und spannend von einer Gesellschaft, die sich im Umbruch befindet. Ab 14. November im Kino.
 

Am 16. September 2022 verlor die 22-jährige Mahsa Amini ihr Leben, nachdem sie durch die islamische Sittenpolizei brutal misshandelt worden war, weil sie ihren Hijab zu locker getragen habe. Ihr Tod löste Proteste aus, wie sie das Land noch nie gesehen hatte, und sorgte für eine Welle an Solidarität. Der Slogan «Woman, Life, Freedom» ging im Kampf für Gleichberechtigung, Freiheit und Menschenrechte um den Globus. 

Kurz nach Aminis Tod siedelt der Meisterregisseur Mohammad Rasoulof «The Seed of the Sacred Fig» an: Iman, ein Familienvater der Teheraner Mittelschicht, wird zum Untersuchungsrichter am Revolutionsgericht befördert. Dies bedeutet für die Familie mit den zwei Töchtern Rezvan (21) und Sana (16) nicht nur den sozialen Aufstieg und eine Verbesserung ihrer finanziellen Situation, sondern verlangt auch von den Mädchen weitere Einschränkungen, sich noch sittlicher zu verhalten, um nicht aufzufallen; denn Iman hat als exponierte Person nun Befugnis, über Leben und Tod zu entscheiden. Die Proteste von der Strasse finden via Social Media ihren Weg auch nach Hause, wo kurz darauf Imans Pistole auf mysteriöse Weise verschwindet. Das lässt in der Familie eine wahre Paranoia ausbrechen.

Wie schon frühere Filme musste Rasoulof «The Seed of the Sacred Fig» heimlich drehen. Durch die Flucht aus dem Iran, um dem Gefängnis zu entkommen, konnte er im Mai 2024 an der Weltpremiere in Cannes teilnehmen, wo er eine 15-minütige Standing Ovation sowie zahlreiche Preise erhielt. Nach «A Man of Integrity» (2017) und «There Is No Evil» (2020), schuf er mit dem neuen Film ein weiteres Meisterwerk über die Unmöglichkeiten individueller Entscheide in einem totalitären Staat. «The Seed of the Sacred Fig» wechselt vom Kammerspiel zum Psycho-Thriller, als das Drama um die verlorene Pistole seinen Lauf nimmt und der Vater in seinem Leben die Kontrolle verliert. Mit einem Ensemble überragender Schauspieler:innen und einer engagierten Crew schuf Rasoulof eine fantastische und bewegend Würdigung der mutigen Frauenbewegung im Iran.

TheSeedOfTheSacredFig 01 OzW8mACMutter Najmeh, Töchter Rezvan und Sana

Fazit: Ein grosser Film über eine Gesellschaft im Umbruch

Aktuell ist mir kein anderer Film bekannt, der mit solcher Perfektion, Bild um Bild, Satz um Satz, eindrücklicher Musik und brillantem Schnitt ein dermassen dichtes und präzises, in drei Stunden sich entwickelnden Gemälde des Umbruchs einer Gesellschaft schuf , akribisch genau und emotional erschütternd, konkret im Reich der Mullahs im Islamischen Gottesstaat angesiedelt. Mit einigen Anpassungen können, so ist zu vermuten, ähnliche Umbrüche wohl auch in anderen Gesellschaften und Religionen auftreten. Allen diesen eruptiven Ereignissen gemeinsam ist wohl die extreme und grundlose Überbewertung des Mannes, welche die Bewegung «Woman, Life, Freedom» frontal angreift und weltweit kritisiert.

Mohammad Rasoulof hat seine Geschichte als Gleichnis, Kammerspiel, Drama, Thriller und Welttheater sich entwickeln lassen. Und da die Realisierung des Films durch die Filmschaffenden selbst schon ein Krieg mit Körpereinsatz gegen absterbende oder abgestorbene Institutionen darstellt, ist der Films für mich umso naheliegender – und die Bejahung seiner Botschaft «Der Friede ist weiblich» umso überzeugender. Schaut man von dieser Behauptung zurück auf die Welten, die er mit «The Seed of the Sacred Fig» ausführlich beschreibt, lädt er uns ein, darüber nachzudenken und, so weit wir können, danach zu handeln.

TheSeedOfTheSacredFig 06Der Konflikt spaltet auch das Paar

Aus den «Director’s Note»

Nach «There is No Evil», meinem letzten Film, dauerte es vier Jahre, bis ich mich an ein neues Projekt wagte. In dieser Zeit habe ich mehrere Drehbücher geschrieben, aber was mich schliesslich zu «The Seed of the Sacred Fig» führte, war eine erneute Verhaftung im Sommer 2022. Dieses Mal war meine Erfahrung im Gefängnis sehr speziell, da sie mit dem Beginn der Bewegung «Frau, Leben, Freiheit» im Iran zusammenfiel. Wie andere Gefangene beobachtete ich die gesellschaftlichen Veränderungen aus dem Gefängnis heraus. Die Proteste nahmen ein unerwartetes Ausmass an, und wir waren vom Mut der Frauen sehr beeindruckt.

Nach der Entlassung stand ich vor der Frage: Worüber soll ich meinen nächsten Film machen? Die Frage trieb mich um. Gleichzeitig erinnerte ich mich an ein Geständnis, das mir ein älterer Gefängnisbeamter gemacht hatte, das mir nicht mehr aus dem Kopf ging. Bei einem Besuch in der Zelle der politischen Gefangenen, als die umfassende Repression gegen die Bewegung «Woman, Life, Freedom» in vollem Gange war, nahm er mich beiseite und sagte mir, er wolle sich vor dem Gefängniseingang erhängen. Er litt unter starken Gewissensbissen und konnte sich nicht von dem Hass befreien, den er für seine Arbeit empfand. Solche Geschichten geben mir die Gewissheit, dass sich die Frauenbewegung im Iran letztendlich durchsetzen und ihre Ziele erreichen wird. Durch Unterdrückung kann die Regierung die Situation vorübergehend unter Kontrolle halten, aber die Bewegung wird siegen.

TheSeedOfTheSacredFig 04Manipulation mit Psychologie

Gewalt gegen das eigene Volk

Das derzeitige Regime im Iran kann sich nur durch Gewalt gegen sein eigenes Volk an der Macht halten. So gesehen ist die Waffe in meiner Erzählung eine Metapher für Macht im weiteren Sinne. Aber sie bietet den Hauptfiguren auch die Gelegenheit, ihre Geheimnisse zu enthüllen, die nach und nach ans Licht kommen und tragische Folgen haben. In der Menschheitsgeschichte gibt es viele Beispiele von mächtigen Menschen, die Nahestehende töteten, um ihre eigene Sicherheit zu gewährleisten. Im Iran gibt es seit der Revolution von 1979 sonderbare Erzählungen über Fanatismus und das Beharren auf einer Ideologie, die Kindermord, Brudermord, das Streben nach Märtyrertum usw. zu quasireligiösen Werten hochstilisierten. In den letzten vierzig Jahren hat die bedingungslose Unterwerfung unter die herrschenden religiösen und politischen Institutionen zu tiefen Spaltungen in den Familien geführt. Wenn ich mir jedoch die von der jungen Generation angeführten Proteste ansehe, scheint es mir, dass sie einen anderen, offenen Weg gewählt haben, um den Unterdrückern entgegenzutreten.

TheSeedOfTheSacredFig 05Am Schluss greift Sana ein

Die Poesie hinter dem Filmtitel

Lange Zeit habe ich auf einer Insel im Süden des Iran gelebt. Dort gibt es einige alte Heilige Feigenbäume. Der Lebenszyklus dieses Baumes hat mich inspiriert. Seine Samen fallen durch den Vogelkot auf die Äste anderer Bäume. Die Samen keimen, und ihre Wurzeln wandern in Richtung Boden. Wenn sie den Boden erreichen, steht der Heilige Feigenbaum auf eigenen Füssen, und seine neu gesprossenen Äste umschlingen den Wirtsbaum, bis sie ihn erwürgen.

Statement von Mohammad Rasoulof, im Mai 202

Regie: Mohammad Rasoulof, Produktion: 2024, Länge: 169 min, Verleih: trigon-film

 

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