StartseiteMagazinLebensartReisen - ein Aufbruch in unbekannte Welten

Reisen – ein Aufbruch in unbekannte Welten

1824 unternahm ein 19jähriger aus Winterthur seine erste Reise ins Ausland: nach Ägypten. Weitere Reisen folgten. Darüber berichtet das Buch «Reisebriefe aus dem Orient. Die Berichte des Kaufmanns Bernhard Rieter 1824 – 1846.»

Im März 1824 macht sich Bernhard Rieter nach dem Abschluss seiner Lehre auf, seine erste Stelle anzutreten, in Alexandria für das Handelshaus Frédéric Guébhard, das seinen Hauptsitz in Livorno hat. Den Arbeitsvertrag unterschreibt Rieter allerdings in Zürich direkt vor seinem Aufbruch.

Kaufleute waren damals häufig auf Reisen. Die Kolonisierung von Afrika und Südasien war keineswegs eine rein politische Unternehmung, im Gegenteil, gerade der Handel erweiterte seine Reichweite und Intensität und nutzte die neuen Möglichkeiten, sich die Kolonien wirtschaftlich zu erschliessen.

Bernhard Rieter (1805 – 1883) entstammte der weitverzweigten wohlhabenden Winterthurer Familie Rieter, Handelsleute der Textilbranche, später etablierten sie sich mit der wichtigsten Spinnerei in der deutschen Schweiz auch als Unternehmer. In Bernhard Rieters Jugend waren die Winterthurer Kaufleute in ihren Aktivitäten noch stark eingeschränkt durch die Gesetze der Zürcher, die z.B. den Seidenhandel für sich beanspruchten.

Vanja Hug veröffentlicht zum ersten Mal die Briefe, die Bernhard Rieter von seinen Reisen nach Winterthur schrieb. Er war das jüngste von sechs Kindern des Kaufmanns Johann Jacob Rieter. 1811 wurde dieser auf einer Geschäftsreise südlich von Heidelberg von Wegelagerern überfallen und verlor Leben und Gut. Dass seine Kinder dennoch in Wohlstand aufwachsen konnten, ist der Verwandtschaft zu verdanken. Sie hielten zusammen.

Dass Bernhard Rieter gern reisen wollte, seine erste Stelle in Alexandria antrat und nicht in Winterthur oder einer anderen Schweizer Stadt, können wir vermuten. Immerhin zeugen schon die ersten Briefe von seiner Freude, Neues zu sehen. Er scheute sich nicht zu erwähnen, was ihm missfiel. In Alexandrien fielen ihm die Hitze und grassierende Krankheiten auf und dass man «bis über die Knöchel» durch tiefen Sand gehen musste. Er vermisste zumindest anfangs seine Winterthurer Freunde.

Alexandria:  Mohammed Ali-Platz in Alexandria, Ägypten (1910 – 1920)

Er beobachtet sehr genau die Menschen in Ägypten und ihre Gewohnheiten, in jugendlichem Erstaunen, aber ohne Misstrauen. Das wird ihn auf all seinen Reisen begleiten: Grundsätzlich betrachtet er seine Umgebung neugierig, wissbegierig, aber weitgehend vorbehaltlos. Über die Araber in Ägypten schreibt er: «. . . Die Haare auf dem Kopf hauen sie ab, lassen sie aber auf der Mitte des Kopfes wachsen, was ihnen, wenn sie ohne Turban sind, ein fürchterliches Aussehen giebt.» Die Stadt Alexandria beschreibt er ausführlich, er weiss, dass sie eine jahrtausendelange Geschichte hat.

In ausführlichen Briefen bemüht sich Berni, wie seine Familie ihn nennt, daheim ein genaues Bild zu vermitteln, in schönster Handschrift, so zeigen es einige Fotografien im Buch. Es sind aus heutiger Sicht sehr vernünftige Erzählungen, besonders wenn wir bedenken, dass Bernhard noch jung ist. So schreibt er 1827 aus Kairo: «Wir befinden uns in einem sonderbaren Lande, das die, so es einmal bewohnt, wie mit magnetischer Kraft anzieht & sie nicht mehr weggehen lässt . . . Wer einmal vom Nilwasser gekostet, der kommt so leicht aus dem Lande nicht wieder.»
Ende 1828 kehrt Rieter nach Winterthur zurück.

Kairo: Blick über al-Qarafa, die «Stadt der Toten», auf die Zitadelle mit der noch unvollendeten Alabastermoschee (1856) Foto: Francis Frith (1822–1898)

Die Reiselust wird ihn nicht verlassen. 1831 reist er in «fröhlicher Gesellschaft» nach Konstantinopel und Triest, wiederum mit dem Schiff, wie für Handelsreisende üblich. Da er hier wie vorher in Ägypten, mit bekannten oder befreundeten Kaufleuten und ihren Familien zusammenkommt, lernt er viel über das Leben in der – damals – griechisch-türkischen Metropole, nimmt an einer Hochzeit teil und muss anschliessend einen fürchterlichen Brand erleben, der auch sein Haus zerstört und ihn zwingt, eine neue Unterkunft zu suchen. Obwohl noch weitere Feuer Zerstörungen anrichten, unterlässt es Rieter nicht, auf die Schönheit des Bosporus zu verweisen, den er mit dem Zürichsee vergleicht.

Von 1843 bis 1846 unternimmt Bernhard Rieter mehrere Reisen, zuerst nach Griechenland, dann nach Ägypten, wo er feststellen muss, dass das Stadtviertel mit seinem früheren Wohnhaus abgebrannt ist, und von da reist er mit dem Schiff über Aden nach Indien. Unterwegs erlebt er einen Sturm, über den er ganz nüchtern berichtet. Er ist nun reiseerfahren und lässt sich davon nicht beeindrucken, zumal keine gravierenden Schäden am Schiff entstehen. In Bombay fällt ihm auf, dass man nicht spazieren geht. Er schreibt über die englischen Kolonialherren: «. . . machen es sich bequem & fahren, reiten oder lassen sich herumtragen.»

«Juma Masjid Bombay» Foto aus dem späten 19. Jahrhundert

Was er vom bunten Leben in Bombay erzählt, wird alle entzücken, die gerne historische Reisebeschreibungen lesen. Rieter schreibt aus unserer Sicht etwas altmodisch, aber immer genau und anschaulich, dazu ausserordentlich ausführlich. – Man könnte meinen, Rieter schreibe seine Berichte für ein künftiges Buch. Das war wohl definitiv nie seine Absicht, die Briefe werden nämlich erstmals 2024 veröffentlicht, nur wenige wurden im 20. Jahrhundert im Winterthurer Jahrbuch einzeln abgedruckt.

Von Bombay aus führen ihn Ausflüge in die Umgebung, ins kühle Poona (heute Pune), wo 140 Jahre später die Hippies zu ihrem Guru pilgerten. Poona beschreibt Rieter als Ort für Gartenliebhaber und Botaniker. Wir können davon ausgehen, dass der Autor sich einschliesst, denn für die kommenden Jahrzehnte wird Rieter oberhalb von Triest in seiner eigenen Villa leben, umgeben von Gärten und unberührter Natur.

Jakarta / Batavia: Rathaus seit 1710

Anschliessend reist Rieter nach Singapur, dann nach Batavia (das heutige Jakarta); er macht in Ostasien verschiedene Abstecher, in Rangoon und Maulmain (Burma). Schliesslich macht er für einige Zeit Station in Kalkutta. Von allen Orten schreibt er lebendige Briefe voller erwähnenswerter Details.

Im einleitenden Kapitel erfahren wir von Vanja Hug alles Wichtige von Rieters Lebensweg. Sie weist darauf hin, dass Bernhard Rieter sehr offen und tolerant gewesen sein muss, vor allem, was andere Kulturen und Religionen angeht. Der Autorin ist aufgefallen, dass ihn das übliche Geschäftsdenken nicht interessierte: Er konnte sich ohne weiteres in die Situation einer konkurrierenden Handelsgesellschaft hineinversetzen. Seine Einkünfte erlaubten es ihm, nach seiner Rückkehr in Triest selbst und etwas ausserhalb in seiner eigenen Villa zu leben. Erst am Ende seines Lebens, als er wohl schon sterbenskrank war, kehrte er nach Winterthur zurück, wo er am 4.5.1883 starb.

Als Lesende hätte ich gern mehr erfahren über die Persönlichkeit des Bernhard Rieter. Das Buch hält sich strikt an die vorliegenden Quellen. Trotzdem ist das umfangreiche Werk sehr empfehlenswert für alle, die sich für vergangene Formen von Leben und Reisen interessieren.

Vanja Hug: Reisebriefe aus dem Orient.
Die Berichte des Kaufmanns Bernhard Rieter 1824–1846.
Aus der Reihe: Neujahrsblatt der Stadtbibliothek Winterthur Band 361.
2024 Chronos Verlag. 644 Seiten. ISBN 978-3-0340-1740-4

Titelbild: Die Shwedagon Pagod, Yangon (Rangoon), Myanmar (Burma).
Alle Fotografien: commons.wikimedia.org

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