Eine Katze erwacht in einem von Wasser überfluteten Universum, in dem alles menschliche Leben verschwunden zu sein scheint. Sie findet Zuflucht auf einem Boot mit einer Gruppe anderer Tiere. Der Lette Gints Zilbalodis schuf mit seinem Animationsfilm «Flow» ein vielschichtiges, vieldeutiges Werk über das Verhalten der Menschen, das kürzlich als bester Europäischer Animationsfilm ausgezeichnet wurde.
Sich mit den andern Tieren arrangieren, erweist sich für die Katze als eine noch grössere Herausforderung als die Überwindung der Angst vor dem Wasser. Was der Regisseur damit macht, ist ein veritables «ABC des menschlichen Verhaltens», mit fantastischen, metaphorischen Bildern, und bleibt dennoch ein unterhaltsames, wunderbares Märchen. Ähnlich wie die grossen Werke der Weltliteratur, die «Odyssee» von Homer, das «Welttheater» von Calderon sowie der «Faust» von Goethe stets die ganze Welt zu erklären versuchen, macht es «Flow».
«Flow» dekliniert das ganze ABC der menschlichen Verhaltensweisen
Wie wir Menschen uns im Leben durchschlagen, sollten oder müssten, zeigen uns die Tiere, unsere Platzhalter, anschaulich und einleuchtend. Einige der Handlungen und Verhalten im Film, zufällig aufgereiht, sind nachfolgend zusammengetragen:
- Angst überwinden. Andere Perspektiven prüfen. Aus fremdem Handeln lernen. Essen teilen.
- Fremden sich nähern. Freude und Liebe geniessen. Gefahren ausweichen. Gelegentlich ein Blick nach oben. Gemeinsam Lösungen suchen.
- Handlungen der andern deuten. Hinsehen und Hinhören. Innen mit Aussen vergleichen. Leiden der anderer wahrnehmen. Mal in die Ferne blicken. Neues im Alten entdecken. Mit allen Sinnen wahrnehmen. Notfalls um Hilfe rufen.
- Natur zum Leben nutzen. Neugierig auf Unbekanntes. Perspektiven wechseln. Rettungsringe nutzen. Schauen, was die andern tun. Schönheit im Zufälligen entdecken. Sich im Spiegel anschauen. Sich anpassen. Sich gegenseitig stützen. Signale anderer wahrnehmen.
- Schönheit des Alltags geniessen. Spielend die Welt erobern. Sich Übersicht verschaffen. Unbekanntes spielend begreifen. Versöhnen und verzeihen. Von anderen lernen. Vorsicht und Vorsorge. Werkzeuge nutzen. Zwischendurch ausruhen.
Was sagt «Flow» zum Krieg als Antwort auf die Situation der Welt?
Nichts! Nach dem konstruktiven, prosozialen «ABC des menschlichen Verhaltens» drängt sich den Zuschauenden eventuell die Frage nach der Antwort auf, welche Rolle im Leben der Menschen der Krieg als Antwort spielen könnte. Doch dazu gibt der Film keine Antwort: für die Tiere nicht und die Menschen nicht. Die landläufige Ansicht, dass der Krieg als Antwort auf die problembelastete Welt eine Rolle spielt, gibt es hier nicht. Denn Tiere kennen keinen Krieg wie die Menschen! – Vielleicht besteht in dieser Auslassung auch ein besonderes Verdienst dieses Films: Antworten auf das behinderte Leben und die zerstörte Welt gibt es nicht beim Krieg, sondern bei all den obigen Antworten.
Die zahllosen konstruktiven und zielführenden menschlichen Reaktionen, die «Flow» als Antworten auf die Worte der Welt und des Lebens bietet, sind reine Poesie: Farben, Töne, Musik, Geräusche, Bewegungen, Rhythmen, Bildschärfen und die Montage, uns präsentiert von der Katze, den Hunden, den Vögeln, den Memen usw. in dieser 85-minütigen Fahrt aus der verschwindenden alten Welt in die werdende neue.
Biofilmografie von Gints Zilbalodis
Gints Zilbalodis, 1994 geboren, ist ein lettischer Filmemacher und Animator. Sein erster Spielfilm «Away», den er vollständig eigenständig geschaffen hatte, gewann in Annecy den Preis für den besten Spielfilm, wurde auf über 90 Festivals gezeigt und in 18 Länder verkauft. Davor hat er sieben Kurzfilme mit verschiedenen Techniken realisiert, darunter handgezeichnete Animationen und 3D-Animationen auf Basis von Realaufnahmen, wobei er oft ihre ästhetischen Merkmale vermischte.
Aus einem Interview mit dem Regisseur
Die weiten Naturgebiete und Tiere sind die Schlüsselelemente Ihrer Spielfilme «Away» und «Flow». Wie war Ihr Verhältnis zu Natur und Tieren in Ihrer Kindheit und wie ist es heute?
Ich habe es immer geliebt, in der Natur zu spazieren. Als Kind hatte ich Katzen, in der Jugend auch Hunde. All das hat mich inspiriert. Der Grund, warum diese Umgebungen in meinen Filmen immer wieder auftauchen, ist also einfach. Ich habe kein Interesse, Dystopien oder realistische Dramen zu machen. Meine Landschaften integriere ich in die Erzählung, sie machen einen wichtigen Teil davon, sind nicht nur Hintergrund.
Welche Filme weckten in Ihnen Lust auf das Filmemachen?
Meine Leidenschaft für das Kino begann mit etwa dreizehn, vierzehn Jahren. Mein Vater hat mir Klassiker gezeigt, darunter Kubrick und Hitchcock, die ich faszinierend fand. Seit dieser Zeit habe ich hauptsächlich Realfilme gesehen, aber auch viele Animationsfilme. Es gibt so viele Regisseure, die ich bewundere, dass ich sie nicht alle aufzählen kann. Meine ersten Kurzfilme habe ich im Rahmen des Kunstunterrichts in der Schule gedreht. Auch wenn diese Erfahrung wertvoll war, habe ich das meiste Wissen mir selbst erworben, indem ich diese kleinen Filme gemacht und Tutorials zur Regie und Animationstechniken auf YouTube geschaut habe. Danach ging ich nicht an die Universität, sondern habe weiter Kurzfilme gemacht, weil einer meiner Schulfilme auf Festivals gezeigt wurde und einen Preis gewonnen hat. Dadurch erhielt ich eine Unterstützung, um einen weiteren Film zu produzieren. Jeder dieser Filme hat mir geholfen, neue Techniken zu lernen, und jedes Mal wurde der nächste Film besser. Bei der Arbeit an «Flow» habe ich wieder Neues dazugelernt.
Was bedeutet Animation für Sie, persönlich und als Künstler und Geschichtenerzähler?
Ich habe das Gefühl, dass mir die Animation ermöglicht, tiefer in das Unterbewusste einzutauchen, als ich es bei einem Realfilm tun könnte. Animation bringt weniger kulturelle oder sprachliche Barrieren. Sie kann universeller und ursprünglicher sein. Von Anfang an hatte ich das Gefühl, dass «Flow» nur in der Animation erzählt werden kann.
Naturkatastrophen und Charaktere, die sich gegenseitig helfen, um zu überleben, sind zentrale Themen in «Flow». Warum erzählen Sie gerne solche Geschichten?
Hauptsächlich weil ich keinen Bösewicht oder Antagonisten in meinen Filmen haben möchte. Stattdessen kann ich eine Katastrophe nutzen, um Konflikte zu schaffen und die Figuren auf ihren Weg zu bringen. In «Flow» verwüstet die Flut weite Teile der Natur. Anfangs erscheint sie als negative Kraft, doch nach und nach beginnen die Charaktere, die Schönheit dieser überfluteten Landschaften zu schätzen, da das Wasser einen Grossteil der Welt eingenommen hat.
Kann man «Flow» als eine Fabel beschreiben, in der die Tiere uns Menschen und die verschiedenen Aspekte unserer Reaktionen auf Widrigkeiten repräsentieren?
Ich denke, die Menschen werden sich mit diesen Tieren identifizieren. Von Anfang an war es unsere Absicht, ihr Verhalten glaubwürdig darzustellen. Unsere Charaktere haben einfache, grundlegende Ziele, was notwendig ist, da es keine Dialoge gibt. Einfach bedeutet aber nicht simpel: Wir nehmen uns die Zeit, diese Ideen und ihre Bedeutung vollständig zu erkunden, ohne uns zu überstürzen.
Regie: Gints Zilbalodis, Produktion: 2024, Länge, 85 min, Verleih: Xenix
Ich habe den Film gesehen; er ist wirklich wunderbar.
Danke für diesen Artikel!
Ganz differenzierte Beschreibung des Films, inklusiv den eindrücklichen Erläuterungen im Interview. Es wird deutlich, welche Möglichkeiten einem Animationsfilm innewohnen.
Diesen Film möchte ich nicht verpassen.