«Heimaten – gemischte Gefühle» war der Titel eines Gesprächs, das kürzlich die Schriftstellerin Ilma Rakusa und den Wiener Psychoanalytiker Rainer Gross zusammengeführt hatte. Gastgeber in der Berner Villa Morillon war das Schweizerische Literaturarchiv.
Als Schriftstellerin, Poetin und Übersetzerin aus mehreren Sprachen ist Ilma Rakusa bekannt und geschätzt. In der Schweiz ist sie seit einigen Jahrzehnten zu Hause. Fragt man sie jedoch nach ihrer Heimat, antwortet sie, dass sie nur den Plural: Heimaten kennt. Ihr Begriff geht über die üblichen Konventionen der Sprache hinaus. «Heimat muss pluralistisch und dynamisch gedacht werden», sagt sie und ihr Gesprächspartner stimmt zu.
Heimat ist
jenes bergende Gras
das Haus dort mit dem verkrüppelten Dach
der Wind den du isst wie trockenen Staub
Vater Mutter verwehtes Laub
Rainer Gross hat sich in seinem Buch «Heimat – gemischte Gefühle: zur Dynamik innerer Bilder» insbesondere mit dem Verlust der Heimat befasst, wie ihn Flüchtlinge erleben. Untersucht hat er diese Problematik angesichts der Flüchtlingswelle aus dem Nahen Osten (Syrien) von 2015 und den folgenden Jahren. Er befragte die Begriffe Herkunft und Ankunft, bzw. Zugehörigkeit und Ausgrenzung auf ihre Bedeutungen, die sich für Einheimische und Zugewanderte durchaus nicht gleich anfühlen: Einheimische fühlen sich bedroht, wenn ihr Dorf Flüchtlinge aufnehmen muss.
Hände von Flüchtlingen. Charly Gutmann / pixabay
Da wird ein Kontrast zwischen der kleinen «heilen Welt» und der Stadt erkennbar. Davon abgesehen, kann der Anspruch «Du musst dich ändern» verunsichern! Gross gibt zu bedenken, dass Heimat ein Korsett sein kann. Für Weltbürger sind «Heimaten» ein Kompliment. Die wichtigere Frage lautet wohl: Bei welchen Menschen fühle ich mich heimisch? – Die selbst geschaffene Heimat wird zum wichtigsten Bezugsort. «Niemand kann dort bleiben, woher er kommt.»
das Märchenbuch das nach Honig riecht
der Mohnkuchen der Erinnerung wiegt
das traurige Lied vom verlorenen Hahn
das Fernweh das nicht ankommen kann
der Glanz in den Augen des Freunds
die Liebe die nichts bereut
Auch in der Schweiz zeigen sich diese Konflikte: Ein Autor wie Arno Camenisch spricht von den «Rissen im Bild der Heimat». Andererseits haben sich eine beachtliche Anzahl von «Töchtern aus dem südosteuropäischen Raum» neben Ilma Rakusa einen weitherum anerkannten Namen als Schweizer Literatinnen gemacht, es seien nur Ágota Kristóf, Dana Grigorcea oder Melinda Nadj Abonji genannt. Interessant wäre es zu erfahren, wie diese teils jüngeren Literatinnen «Heimat» für sich definieren würden.
was du dir selbst bist in schlafloser Nacht
oder unterwegs zwischen Himmel und Schacht
die Stimme des einzigen Sohns
ein Vers mit eigenem Ton
das Gedächtnis das Tiefen auftut
der Lichthase in sicherer Hut
Sommer Herbst und blauweisser Schnee
die lachend weinende Zeit die nie steht
Auf Gross’ Frage, wo sie ihre ideelle Heimat sehe, antwortet Ilma Rakusa, in der Musik, vor allem in der von Johann Sebastian Bach, aber auch bei Béla Bartók, von dem sie als Kind viel gelernt hat, fühle sie sich heimisch: «Ein Trost, dass es solche Musik gibt». Kunsterlebnisse vermitteln ihr Heimatgefühle, auch beim Schreiben fühlt sie sich daheim. Selbstvergessenheit in der Musik, in der Natur gehören dazu und mystische Momente in der Liturgie eines Gottesdiensts. Das sind Momente tiefer Aufgehobenheit jenseits räumlicher oder zeitlicher Kategorien.
Das Koffertrauma
Mehrmals betont die Autorin, dass sie das Glück hatte, mit ihrer Familie nicht als Flüchtling von der Slowakei, über Ungarn und Triest schliesslich in die Schweiz gekommen zu sein. Zwar stehen Flüchtlingen gewisse Erleichterungen zu, aber im selbstgewählten Exil bewahrt man sich eine gewisse Würde. Der Koffer wurde zum Symbol des Weiterziehens, Aufgeben der temporären Heimat. Beim Kofferpacken hörte sie als Kind «Du kommst mit», entscheiden konnte sie nicht. Die Familie war «noch nicht fort und nicht mehr da.» Schon damals lernte sie: «Obdach gewährst du dir selbst».
Die Flucht nach Ägypten / pixabay.com
Aus der Sicht des Psychiaters merkt Rainer Gross dazu an, dass Flüchtlinge mit Koffer die Glücklicheren seien, im Vergleich zu denen, die nur einen Plastiksack oder ein kleines Bündel mit sich trügen.
Später als Erwachsene lernte Ilma Rakusa andere Kulturen kennen und empfand dieses Reisen ganz anders. In Osteuropa vermittelte ihr der Geruch von Braunkohleheizungen heimatliche Gefühle. Wo Spuren vergangener Kriege noch sichtbar waren, fühlte sie sich «zu Hause»!
«Assimilation versus Unangepasstheit»
Im Zürich der 1950er Jahren galt es, «Fasson zu bewahren», wie ihre Mutter sagte. Fasson oder Fassade: «das gehörte zusammen und war mir doch zutiefst suspekt», sagt sie rückblickend. Was tat sie? «Ich entzog mich in mein Leseversteck, freiwillig und lustvoll, – oder in die Migräne, die schmerzvoll war und unfreiwillig.» Im Nachhinein erkennt sie darin ihre Weigerung, sich anzupassen. Neben dem Lesen war früh auch Schreiben der Versuch, eine eigene Autonomie zu finden. Da konnte ihr niemand dreinreden.
Diese Beobachtungen ergänzt Rainer Gross: «Wer wirklich autonom ist, muss seine Heimatgefühle nicht beweisen.» In ihrem Gespräch spielen die beiden die verschiedenen Varianten von Heimisch-Sein, Unterwegs-Sein durch. Die erst seit der Globalisierung mögliche Lebensweise der Expats hat ebenso verschiedene Aspekte. – Eine allgemein gültige Strategie dafür, Menschen Sicherheit zu geben, kennt er nicht. Jedoch gilt: Mit dem Gefühl der Sicherheit reduziert sich die Angst derer, die nicht unterwegs sind.
Ilma Rakusa beim Fokus Lyrik 2019 in Frankfurt a.M. / wikimedia.org.
«Ich bin ausgeschwärmt nach innen und aussen», sagt sie über sich selbst.
Heimat in der Sprache
Im Land der vielen Dialekte, der Schweiz, sind gerade diese ein Anker, eine Heimat zu finden. Ilma Rakusa bekennt, dass sie sich stets nur auf Hochdeutsch ausgedrückt hat, nun aber mit ihren Enkelkindern Schweizerdeutsch lernt – mit grosser Freude, gleichzeitig mit den Kindern neue Ausdrucksformen zu lernen.
Ilma Rakusa wurde 1946 in Rimavská Sobota (Slowakei) geboren. Ihre frühe Kindheit verbrachte sie in Budapest, Ljubljana und Triest, seit 1951 lebt sie in Zürich. In ihren autobiographischen Erinnerungspassagen «Mehr Meer» entfaltete sie ein fragmentiertes und vielfältiges Bild von Heimat.
Ihr Archiv befindet sich im Schweizerischen Literaturarchiv in Bern.
Mehr Meer. Erinnerungspassagen. Droschl, Graz 2009
Der Wiener Psychiater und Psychoanalytiker Rainer Gross (*1953), – Autor des Buchs «Heimat – gemischte Gefühle: zur Dynamik innerer Bilder» – entwickelt in seiner Studie einen dynamischen Heimatbegriff. Er untersucht die Frage: Entstehen in einer literarischen Autobiographie und in einer gelingenden Psychoanalyse ein gemeinsamer Fluchtpunkt «Heimat»?
Heimat – gemischte Gefühle: zur Dynamik innerer Bilder. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2019
Schweizerisches Literaturarchiv
Villa Morillon Bern
Das Gedicht «Heimat» (aus ihrem Buch «Mein Alphabet»), hier in drei Abschnitten zitiert, las Ilma Rakusa zum Abschluss.
Titelbild: Koffer. Jacqueline Machou / pixabay.com
Ich danke Maja Petzold für diesen schönen informativen Bericht über eine Veranstaltung, der ich gerne beigewohnt hätte.