Es war in Horb am Neckar im November 2024. Es schneite ununterbrochen. Ein starker Wind wirbelte den heftigen Schneefall wild durcheinander. Und unerwartet wechselte der Wind seine Richtung und bliess einem den nasskalten Schnee scharf ins Gesicht. Brunhilde Schwarz (62) wurde zu Grabe getragen. Hunderte waren erschienen, um die beliebte und allseits geachtete Frau, die im Gemeindehaus unvoreingenommen für alle ansprechbar war, auf ihrem letzten Weg zu begleiten. Am Grab ertönte eine mir im ersten Moment unbekannte Stimme, leise nur. Ich schaute mich um und erblickte auf dem Grabstein neben ihrem Grab einen schon beinahe eingeschneiten Lautsprecher. Und plötzlich war mir die Stimme mit dem unverwechselbaren Timbre vertraut. Ich konnte sie zuordnen: Udo Jürgens mit «Ich lass euch alles da…» Brunhilde muss ihn geliebt, geschätzt haben, dass sie von ihm begleitet zu Grabe getragen werden wollte. Niemand sagte etwas dazu, nicht die Pfarrerin, nicht die nahen Verwandten. Alle hörten einfach zu.
Welche Bedeutung Udo Jürgens für viele hatte, wurde mir am letzten Montag so richtig bewusst, als ich, eher ungewollt, die grosse Show in der ARD zu seinem 90.Gebutstag sah, wie er posthum geehrt wurde. Wie er den Zeitgeist erfasste, sozialkritische Lieder komponierte und leidenschaftlich in aller Welt vortrug. Wie er, ein gebürtiger Österreicher mit Schweizer Pass, von Deutschland als Deutscher vereinnahmt wurde, eigentlich aber ein Zürcher war, der am Bellevue herrschaftlich wohnte, dem man in der Kronenhalle, in Gaststätten am rechten Zürichsee zufällig begegnen konnte, der oft im Schweizer Fernsehen auftauchte, wo ich mit ihm zweimal beruflich zu tun hatte, immer freundlich, zuvorkommend.
Und nun in dieser Sendung, von einer Schweizerin aus Italien und einem Österreicher aus Wien moderiert, stand er posthum im Mittelpunkt. Wenn es eines Beweises bedurfte, so wurde er geliefert: Keiner der auftretenden Sänger erreichte im virtuellen Duett auch nur annährend sein Timbre, seine Gesangskunst.
Es war ein Zusammentreffen einer europäischen, einer multikulturellen Familie und die Schweiz wie selbstverständlich mittendrin. Michelle Hunziker liess gar ihr breites Bärndütsch aufblitzen, als sie mit Pepe Lienhard über seine Erfahrungen als Schweizer Kapellmeister mit Udo Jürgens sprach, mit dem er jahrzehntelang auf allen grossen Bühnen in dieser Welt Auftritte hatte.
Macht die Unterhaltung vor, was der Politik, insbesondere der Schweizer Politik so schwerfällt, über Grenzen hinweg vorbehaltlos zusammen zu finden, zu feiern, auch zu gedenken, ohne dass alles geregelt ist, ohne dass es sofort zum eigenen Vorteil gereicht? Eine Frage, die uns gerade jetzt zum Jahreswechsel mehr als nur umtreiben sollte.
Irgendwie hat mich die Sendung berührt, ihre Internationalität, ihre Lockerheit, ihre Gelassenheit, obwohl es um ein Gedenken ging. Sie erinnerte mich an Horb am Neckar, an Brunhilde, die den Mut hatte, sich und uns auf dem Weg zum Grab zu begleiten, nicht von Johann Sebastian Bach, sondern von Udo Jürgens.
Udo Jürgens war ein kreativer Musiker und traf mit seinen Liedtexten oft den Zeitgeist. Er hatte den Mut den Text zu diesem selbst komponierten Song zu singen; zu hören ist er eher selten im Radio, obwohl er die Wurzel allen Übels und den Anfang allen Elends in der Welt beschreibt.
https://youtu.be/98o_UUeKoao?list=TLPQMDMwMTIwMjV04iVDeEjw_g
Bravo Frau Mosimann,
Obwohl männlich, muss ich Ihnen da100 % zustimmen!
Mit freundlichem Gruss
René Huber
Ihre Reaktion freut mich sehr Herr Huber 🙂 Ich wünschte mir, dass viele Männer (und Frauen) auch so denken und auch dazu stehen. Das menschliche Potential ist enorm gross und die Möglichkeiten zur Schaffung einer friedlichen Gesellschaft realistisch, wenn wir alle ohne Geschlechter- und Machtzuteilung mit gegenseitigem Respekt auf Augenhöhe zusammenarbeiten.