An der Gesundheitsförderungskonferenz Ende Januar 2025 leitete Elena Konstantinidis, Stellvertretende Geschäftsleiterin von Selbsthilfe Schweiz, einen Workshop zum Thema «Solidarität unter Gleichbetroffenen – die Kraft der Selbsthilfe.» Was ist der Nutzen der Selbsthilfe und wie ist die Selbsthilfe in der Schweiz organisiert?
Zunächst ein paar Zahlen: In der Schweiz gibt es rund 2700 Angebote zur gemeinschaftlichen Selbsthilfe mit 300 Themen und gesamthaft ca. 50 000 Mitgliedern. Rund 70 % der Themen sind gesundheitsbezogen, 30% psychosozial. Rund 20 % der Selbsthilfegruppen richten sich an Angehörige von Betroffenen.
Wie funktioniert eine Selbsthilfegruppe? Mitglieder einer Selbsthilfegruppe treffen sich mit dem Ziel, einander zu helfen und zu unterstützen in Bezug auf eine herausfordernde Lebenssituation, die sie alle betrifft. Dazu dienen der gegenseitige Austausch von Informationen und Erfahrungswissen. Die Teilnehmenden treffen sich freiwillig, aus eigener Motivation und sind bereit sich aktiv zu beteiligen. Eine Selbsthilfegruppe ist nicht gewinnorientiert und die Teilnahme ist kostenlos. (Allenfalls kann ein Unkostenbeitrag etwa für die Saalmiete oder für Speis und Trank zwischendurch erhoben werden.) Wie oft man sich per Video oder in Präsenz trifft und ob zu bestimmten Fragen oder Schwierigkeiten Fachleute beigezogen werden, entscheidet die Gruppe selbst.
Die Mitglieder einer Selbsthilfegruppe treffen sich in einem geeigneten privaten Raum oder in einem Raum des Selbsthilfezentrums. (Foto @ Selbsthilfe Schweiz)
Beispiele von Selbsthilfegruppenthemen in alphabetischer Reihenfolge: Alkoholismus, Alleinerziehend, Armut, Beziehung und Partnerschaft, Bipolare Erkrankung, Burnout, Chronische Schmerzen, Co-Abhängigkeit, Cystische Fibrose, Darmkrebs, Demenz, Depressionen, Einsamkeit, Elternschaft, Essstörungen, Fehlgeburt, Frauenthemen, Fremdplatzierung, Geruchs- und Geschmacksverlust, Gewalt, Glaukom, Herzerkrankungen, Hochsensibilität, Hörbehinderung, Inkontinenz, Intergeschlechtlichkeit, Interkulturalität usw. bis z, siehe Themenliste von Selbsthilfe Schweiz
Wie wirkt sich die Teilnahme in einer Selbsthilfegruppe aus? Die Wirkung ist individuell unterschiedlich. Die meisten schätzen das gemeinschaftliche Zusammensein unter Gleichbetroffenen. Sie sind dankbar für hilfreiche Tipps und Informationen, können dadurch oft besser mit ihrer Situation umgehen und verbessern ihre Lebensqualität. Sie machen die positive Erfahrung, dass sie selbst auch andere durch den Erfahrungsaustausch unterstützen können.
Wenn es für alle passt, kann sich eine Selbsthilfegruppe auch draussen treffen. (Foto @ Selbsthilfe Schweiz)
Wie findet man eine passende Selbsthilfegruppe? Auf der Website von Selbsthilfe Schweiz kann man einen Begriff in ein Suchfeld eingeben und nach Kriterien wie z.B. Wohnregion filtern und erhält dann eine Liste der vorhandenen Angebote. Oder man ruft die Adresse des nächsten von 22 regionalen Selbsthilfezentren auf und nimmt direkt dort Kontakt auf. Interessierte können in eine bestehende Selbsthilfegruppe eintreten oder eine neue Gruppe gründen. Wer eine neue Gruppe gründen will, findet Beratung und Begleitung der Gruppe in der Gründungsphase und bei Schwierigkeiten im regionalen Selbsthilfezentren in seiner Nähe. Weitere Selbsthilfeangebote bieten zudem die über 200 themenspezifischen Selbsthilfeorganisationen. Hier eine Übersicht
Seniorweb stellte der Leiterin des Workshops, Elena Konstantinidis, einige Fragen:
An wen kann sich eine Person wenden, wenn sie keine passende Selbsthilfegruppe findet?
Elena Konstantinidis: Wer eine Selbsthilfegruppe sucht, wendet sich am besten direkt an das regionale Selbsthilfezentrum. Sie werden dort beraten (telefonisch oder persönlich), ob eine Selbsthilfegruppe das Richtige für Sie ist, welche Gruppe in Frage kommt und wie Sie mit dieser in Kontakt treten können. Bei Bedarf erhalten Sie auch Hinweise auf alternative Unterstützungsmöglichkeiten zu Ihrem Thema. Sie können die Gruppen auch direkt auf unserer Website in der Datenbank suchen, um zu sehen, was es gibt. Aber die Kontaktaufnahme mit der Gruppe läuft fast immer via das Selbsthilfezentrum. Dies ist wichtig, damit die Personen aus der Gruppe nicht ihre persönlichen Kontaktdaten im Internet publizieren müssen.
Elena Konstantinidis ist Projektleiterin und stellvertretende Geschäftsführerin von Selbsthilfe Schweiz. (Foto zvg.)
Es gibt nicht in jeder Region zu jedem Thema eine Gruppe. Aus folgendem Grund: Eine Selbsthilfegruppe entsteht dann, wenn eine betroffene Person die Initiative ergreift, andere Betroffene zu suchen und eine Gruppe zu starten. Dabei kann die Person Unterstützung vom regionalen Selbsthilfezentrum erhalten: Dieses unterstützt die Ausschreibung und Suche nach weiteren Interessierten. Zum Beispiel, indem ein Infoflyer an themenspezifische Arztpraxen verschickt wird, durch Meldungen in den lokalen Medien oder auch via Social Media. In dieser Phase ist die Gruppe als «Selbsthilfegruppe im Aufbau» ausgeschrieben. Das heisst, es sind noch nicht genug Leute gefunden worden, um die Gruppe zu starten, und weitere Interessierte werden gesucht. Darum lohnt es sich auf jeden Fall, sich auch für eine «Gruppe im Aufbau» anzumelden, auch wenn es dann etwas Geduld braucht, bis man an einem Treffen teilnehmen kann.
Sobald genug Personen beieinander sind, kann dann ein erstes Treffen stattfinden. Üblicherweise werden die ersten zwei bis drei Treffen der Gruppe durch eine Fachperson vom Selbsthilfezentrum moderiert. Dies gibt den Menschen in der Gruppe die Möglichkeit miteinander zu klären, wie sie als Gruppe funktionieren wollen: Wie oft und wo wollen sie sich treffen? Gibt es Abmachungen, Regeln? Soll die Gesprächsleitung z.B. jedes Mal bei einem anderen Mitglied sein, usw. Wenn sich die Gruppe so «gefunden» hat, zieht sich die Fachperson zurück. Die Gruppe trifft sich eigenständig weiter.
An wen kann sich eine Selbsthilfegruppe wenden, wenn Schwierigkeiten in der Gruppe auftauchen?
Selbstverständlich steht das Selbsthilfezentrum auch mit Rat und Tat zur Verfügung, wenn in der Gruppe Schwierigkeiten auftauchen. Das ist aber längst nicht die einzige Möglichkeit: Wir haben vor kurzem mit einer Umfrage bei den Gruppen herausgefunden, dass es diesen in den meisten Fällen gelingt, Schwierigkeiten gemeinsam in der Gruppe zu besprechen und zu bewältigen. Die Teilnehmenden in Selbsthilfegruppen sind ja Menschen wie du und ich – sie bringen zahlreiche Kompetenzen und viel Lebenserfahrung mit, nicht nur zu ihrem Thema, sondern auch dazu, wie man in Teams, Vereinen und Gruppen gut miteinander umgehen und Probleme lösen kann. Gruppen, die zu einer grösseren Selbsthilfeorganisation gehören, erhalten zudem auch dort Unterstützung oder Coaching bei Schwierigkeiten. Sowohl Selbsthilfezentren wie auch Selbsthilfeorganisationen bieten Austauschmöglichkeiten und niederschwellige Weiterbildungsmöglichkeiten für die in den Gruppen engagierten Personen an.
Seit einiger Zeit läuft das Projekt «Gesundheitskompetenz dank selbsthilfefreundlichen Spitälern.». Dabei wird eine Kooperation zwischen Spitälern, Selbsthilfezentren und Selbsthilfegruppen angestrebt. Wie weit ist das Projekt bereits gediehen und was erwarten sich die Beteiligten davon?
Die Verbreitung des Modells «Selbsthilfefreundlichkeit im Spital» gedeiht erfreulicherweise sehr schön. Derzeit sind es 58 Organisationseinheiten, also Abteilungen, Zentren oder Kliniken von insgesamt 46 Spitälern, die eine enge Zusammenarbeit mit der Selbsthilfe nach unserem Modell aufgebaut haben bzw. auf dem Weg dazu sind. Und zwar in 18 Kantonen der deutschen wie auch in der französischen Schweiz und hoffentlich auch bald im Tessin.
In einem «Selbsthilfefreundlichen Spital» ensteht ein Kooperationsdreieck aus Fachpersonen aus dem Spital, dem Selbsthilfezentrum und Personen aus den Selbsthilfegruppen. Gemeinsam arbeiten sie darauf hin, die Qualitätskriterien der «Selbsthilfefreundlichkeit» umzusetzen. Bei diesen geht es darum, dass sich die Selbsthilfe im Spital selbst darstellen, also zum Beispiel Informationsmaterial auflegen kann. Zusätzlich müssen möglichst alle Patientinnen und Patienten (und wenn das sinnvoll ist, auch ihre Angehörigen) individuell direkt über passende Selbsthilfeangebote informiert werden. Zudem werden die Mitarbeitenden im Spital über die Zusammenarbeit mit der Selbsthilfe informiert sind und das Spital kann diese auch in seiner Kommunikation gegen aussen erwähnen. Zentral ist, dass das Spital eine Person als verantwortlich für das Thema Selbsthilfe definiert, bei der die «Fäden zusammenlaufen» und dass ein regelmässiger Austausch zwischen den Fachpersonen im Spital und der Selbsthilfe stattfindet.
Dadurch erfahren viel mehr Personen von Selbsthilfeangeboten. Die Selbsthilfegruppen und -organisationen erhalten vermehrt die Möglichkeit, sich in Zusammenarbeit mit dem Spital direkt an die Patientinnen und Patienten zu wenden, zum Beispiel im Rahmen von Infoveranstaltungen.
Selbsthilfe stellt ein wichtiges zusätzliches Angebot dar für Patientinnen und Patienten mit langwierigen oder chronischen Erkrankungen. Das medizinische Personal kann eine Behandlung durchführen, aber wie kann der Alltag mit der Erkrankung bewältigt werden? Wie soll mit Sorgen und Ängsten umgegangen werden? Da hilft das Erfahrungswissen der Gleichbetroffenen in der Selbsthilfegruppe.
Ein Arzt aus dem Spitalzentrum Biel hat es in einem Interview mit der der spitaleigenen Zeitschrift anschaulich beschrieben: «Wir Ärzte geben Ärzte-Tipps. Wir können unsere Patientinnen und Patienten medizinisch behandeln, ihnen beispielsweise die Blase entfernen und ein Stoma anlegen. Aber wie sie danach ins Schwimmbad gehen oder die Ersatzblase unter dem Abendkleid verstecken können, wissen wir nicht konkret. Deshalb ist der Austausch unter Gleichbetroffenen so wichtig.»
Das medizinische Personal profitiert aber seinerseits auch vom Austausch mit den Patientinnen und Patienten. So berichtete uns eine Pflegeleitung an einer Frauenklinik: «Wir helfen den Patientinnen in der akuten Phase, aber danach haben wir keine Berührungspunkte mehr mit ihnen. Wir wissen nicht viel darüber, wie sie eine Fehlgeburt und die Behandlung erlebt haben und welche Auswirkungen das langfristig auf ihr Leben hat.» Die Zusammenarbeit mit der Selbsthilfe «ist für uns eine wichtige Erweiterung der Perspektive. Wir hören, welche Bedürfnisse Patientinnen haben und wie wir den Umgang mit ihnen in der akuten Phase optimieren können.»
Diese Beispiele und weitere Einblicke finden sie auf unserem Blog www.selbsthilfefreundlichkeit.ch
Wie wird Selbsthilfe Schweiz finanziell unterstützt?
Selbsthilfe Schweiz erhält eine Basisfinanzierung vom Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV), was aber nicht unseren ganzen Aufwand deckt. Wir geben einen Teil dieser Subvention an die regionalen Zentren weiter. Zudem unterstützen uns die Kantone, diese finanzieren jedoch in erster Linie natürlich die jeweiligen kantonalen/regionalen Selbsthilfezentren. Die Verbreitung des Modells «Selbsthilfefreundliches Spital» wird grosszügig gefördert von der Gesundheitsförderung Schweiz, der Beisheim Stiftung und der Eidgenössischen Qualitätskommission. Dabei handelt es sich jedoch um zeitlich befristete Unterstützung. Sowohl die Dachorganisation wie auch die regionalen Zentren sind regelmässig auf Fördergelder aus Fundraising und Spenden angewiesen. Wenn Sie uns unterstützen möchten, können Sie dies via unser Spendenkonto tun: IBAN CH04 0900 0000 4038 0894 0.
Titelbild: Elena Konstantinidis leitete den Workshop «Solidarität unter Gleichbetroffenen – die Kraft der Selbsthilfe» an der 26. Gesundheitsförderungskonferenz in Bern. (Foto bs)
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