Wenn aus Fassungslosigkeit Worte werden und daraus Bilder entstehen: Die Berner Künstlerin Yolanda Jacot-Parel und ihr Mann, der Autor Angelo Lottaz, haben als fassungslose Zeitzeugen der Geschehnisse in der Ukraine, in Israel, in Gaza und anderswo Gedichte sowie Gemälde gestaltet,
Februar 2022: Die russische Armee griff die Ukraine an. Oktober 2023 mit dem barbarischen Überfall und der Geiselnahme durch die Hamas und als Reaktion Israels die Bombardierung des Gazastreifens, die Tötung Zehntausender Menschen und die Zerstörung jeglicher Lebensgrundlage der Überlebenden. Täglich hörten die Künstlerin Yolanda Jacot-Parel und der Autor Angelo Lottaz von den Geschehnissen, von den Gräueltaten. Das Künstlerpaar merkte, dass die unerträgliche Gleichzeitigkeit – das Grauen des Krieges, die Ermordung von Menschen und die Zerstörung von Heimat einerseits und ihr sicherer, gleichgebliebener Alltag und das private Glück andererseits – etwas in ihnen auslöste, dass sie nur schwer benennen konnten.
….und plötzlich | 2024 | Acryl, Sand, Asche, Papier und Glas auf Leinwand.
Plötzlich rückten auch die Geschehnisse in Syrien, Afghanistan, Sudan, China und … wieder näher. Mit den Gestaltungsmöglichkeiten der Lyrik und der Malerei wollten die Malerin und der Autor dem Unfassbaren einen Ausdruck geben. «Wir möchten uns nicht der Ohnmacht ausliefern, sondern der Barbarei etwas entgegenstellen», so das Künstlerpaar. Lottaz suchte in tastenden Gedichten nach Ausdruck für das, was die nahe Kriegswirklichkeit mit ihm machte, für die Ohnmacht, für das Erleben von hilflosem, ratlosem und auch zornigem Mitleid. Jacot-Parel versuchte ihrerseits einen Ausdruck zu finden für das, was die Gedichtworte und die Ereignisse in ihr auslösten. Und aus Worten und Bildern sind nun eine Kunstausstellung, ein Event und ein Buch entstanden.
Kunst gegen Barbarei
In der Malerei von Jacot-Parel und den Gedichten von Angelo Lottaz findet die Gleichzeitigkeit vom Schrecken des Krieges dort und dem Alltagsleben hier in vielschichtiger Form Ausdruck. So wird aus der Fassungslosigkeit ein sehr persönliches Bekenntnis zur universellen Menschenwürde und eine Einladung, genau hinzuschauen und hinzuhören: «Angelo Lottaz schenkt uns seine Empfindsamkeit und seine Intelligenz auf so unaufdringliche Art, dass wir beim Lesen der Gedichte kaum bemerken, wie wir innerlich wachsen. Mehr kann man wohl von einer Lyriksammlung nicht verlangen,» sagt der Schriftsteller Pedro Lenz, der für das Buch «… und plötzlich» ein Vorwort schrieb.
rebus | 2023 | Acryl, Grafit, Bitumen, Sand, Asche und Collage auf Leinwand.
Fragen an das Künstlerpaar
Seniorweb: Fasziniert von der Welt schrieben Dichter einst Gedichte über die Liebe und andere Schönheiten. Sie schreiben Gedichte über Krieg und Zerstörung. Was fasziniert Sie am Bösen?
Angelo Lottaz: Das Böse fasziniert mich ganz und gar nicht – aber es ist Teil unserer Lebenswirklichkeit. Es stimmt, dass in vielen Gedichten vom Schönen im Leben geschrieben wird – warum auch nicht, ich mache das auch gerne. Allerdings möchte ich damit nicht das Leiden und die Not verdrängen oder vergessen machen (und ich hoffe, dass die Liebe sogar in meinen Gedichten über Krieg durchscheint). Nehmen wir nur das Schöne in den Blick, fehlt die Hälfte des Lebens. Ein wunderbares Gedicht von Hölderlin heisst genau so: «Hälfte des Lebens». Nachdem er von den gelben Birnen, wilden Rosen und holden Schwänen gesungen hat, fängt die zweite Strophe an mit «Weh mir, wo nehm ich, wenn es Winter ist, die Blumen…».
Weshalb schreiben Sie zu dem dunklen Thema Gedichte? Wäre Prosa nicht wirkungsvoller?
Die Lyrik hat sich mir aufgedrängt, weil sie mir besser ermöglicht als die Prosa, mich der tiefen existenziellen Not, der Verletzlichkeit und Versehrtheit des gefährdeten Lebens anzunähern, dem Ambivalenten, dem Ungeheuerlichen und kaum Aushaltbaren – die Sprache ist freier, suchend, darf stottern und holpern, findet Bilder, Metaphern, sucht in ihrer Form, der nie ganz zu fassenden Verwickeltheit und Mehrdimensionalität der Wirklichkeit Raum zu geben.
Ausgangspunkt für das Projekt war offenbar die Nachrichtenflut aus der Ukraine und aus Gaza. Sind Ihre Gedichte eine Art Selbsttherapie, ein Versuch, depressive Stimmungen von Ihnen fernzuhalten?
Es ist ein Versuch auszudrücken, was die unerträgliche Gleichzeitigkeit von unserem sicheren, ruhigen, normalen Alltag hier und dem Kriegshorror und dem Terror dort mit mir macht. Ich will nicht etwas fernhalten von mir, sondern im Gegenteil, ich will aushalten, was da in mir ist, und einen adäquaten Ausdruck dafür finden, statt es wegzuschieben und in Ohnmacht, Gleichgültigkeit oder Zynismus zu versinken. Wenn ich diese andere Hälfte des Lebens zulasse, kann ich nicht weiterleben wie nichts wäre.
TEXT-BEISPIEL: Text_Nackt wie die Kinder (LINK)
Sie sind Theologe. Wenn es einen Gott gibt, weshalb lässt Gott die menschenverachtenden Tötungen, Folterungen und Zerstörungen in Gaza, in der Ukraine und anderswo zu?
Ich würde diese Frage zuerst einmal den Menschen stellen: Wie könnt ihr zulassen, dass gefoltert wird, dass Kinder von ihren Familien getrennt werden, dass Mütter getötet werden. Wie ist es möglich, dass ihr weiterlebt, als ob es diese Barbarei nicht geben würde. Und schliesslich: Wie kann es sein, dass ihr an einen Gott glaubt und dieser Glaube offensichtlich keinen Einfluss auf euer Leben hat – oder schlimmer noch, dass ihr diesen Gott für euch in Anspruch nehmt, für eure gewalttätigen, egoistischen, grössenwahnsinnigen Fantasien? Die Frage an Gott zu richten, kommt mir als ein Ausweichen vor.
Werden die Schuldigen eines Tages bestraft, wie Adam und Eva bestraft wurden?
Ich habe die Hoffnung, dass schlussendlich der Mörder nicht über das Opfer triumphieren wird, dass das Unrecht nicht das letzte Wort haben wird (wie Max Horkheimer sagt) – oder vielleicht muss ich besser sagen: die Hoffnung, dass diese Sehnsucht nach Gerechtigkeit nicht untergeht, auch wenn im Moment offen versucht wird, sie uns auszutreiben. Vielleicht wäre das die schlimmstmögliche Form der Bestrafung: dass wir unsere grosse Sehnsucht verlieren und ebenso das Wissen darum, dass die Welt immer eine Nummer zu klein ist, um unsere Sehnsucht nach Gerechtigkeit, nach Erfüllung befriedigen zu können.
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Fragen an Yolanda Jacot-Parel: «…. und plötzlich» ist ein Gemeinschaftswerk. Sie haben die Gedichte von Angelo Lottaz illustriert, nachdem Sie diese gelesen hatten. Was lösen die Nachrichten über Kriegshandlungen in Gaza und in der Ukraine bei Ihnen aus?
das tier | 2024 | Mischtechnik, Collage und Glas auf Leinwand.
Yolanda Jacot-Parel: Ich habe die Gedichte nicht nur illustriert, ich habe sie aufgrund meiner eigenen Eindrücke weitergeführt. Als im Februar 2022 die russische Armee, trotz gegenteiliger vorangehender Beteuerungen Putins, die Ukraine angriff, war ich schockiert. Ebenso entsetzt hat mich der barbarische Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 sowie die Reaktion Israels; letztere war absehbar, aber das Ausmass, die Unverhältnismässigkeit und die Brutalität machten und machen mich immer noch fassungslos. Die Besessenheit der Kriegstreiber in Russland und in Israel finde ich unsäglich. All die unschuldig Getöteten, Verletzten, Verschleppten, Gefolterten, das Leid ihrer Angehörigen, das Aushungern, die masslose Zerstörung von Infrastruktur, der Lebensgrundlagen schlechthin – ganz zu schweigen von den voraussehbaren Auswirkungen über Generationen hinweg! All das macht mich unendlich traurig und gleichzeitig ungeheuer wütend.
Wollen Sie mit Bildern etwas verändern, einen Hilfeschrei aussenden? Die Aufmerksamkeit der Lesenden sowie der Ausstellungsbesuchenden auf Brutalität und Ungerechtigkeit lenken?
Es sind die Hilfeschreie der Opfer, die gehört werden sollen! – Ich kann die Welt mit meinen Bildern nicht verändern. Die Bilder sind Ausdruck meiner Gefühle und eine Art damit umzugehen. Wer meine Bilder aufmerksam betrachtet, wird sich zudem ein eigenes Bild und eigene Gedanken machen.
Sie sind es gewohnt, schöne Landschaften zu malen. Nun sind Krieg und Zerstörung das Motiv geworden. Was macht dieser Themenwechsel mit Ihnen?
Ich habe bisher kaum schöne Landschaften gemalt. In meine vorwiegend ungegenständlichen Bilder habe ich immer Emotionen eingepackt, freudige, zärtliche und wütende. Bevor ich die Bilderserie «…und plötzlich» in Angriff nahm, waren Putin und meine Wut über den Krieg auch schon in meine Arbeiten eingeflossen, nur nicht offensichtlich. Wo ich mit «…und plötzlich» tatsächlich einen Wechsel vollzog, ist das Ausgehen von einem konkreten Text und meiner eigenen konkreten Aufgabenstellung. Üblicherweise lasse ich sonst ein Bild prozesshaft entstehen, mit offenem Anfang und offenem Ende. Übrigens habe ich hier nicht nur Krieg und Zerstörung gemalt, sondern auch Schönes aus unserem Alltag, das gleichzeitig da ist.
Was braucht es, damit in Gaza, in der Ukraine, auf der Welt wieder Friede einkehrt? Kann Kunst etwas dazu beitragen?
AL: Nur ein universeller Humanismus wird uns weiterführen, d.h. die Haltung, dass ein jeder Mensch mit Respekt und Würde zu behandeln ist, dass die Menschen gleichwertig und gleichwürdig sind, dass ein Baby in Gaza und ein Baby in Tel Aviv und ein Baby in Butscha und ein Baby in Bern das gleiche Recht auf Unversehrtheit und Menschenwürde hat. Selbstverständlich kann Kunst sehr viel dazu beitragen: Sie stellt dem Menschen die Frage: wer bist du, wer willst du sein? Sie lässt die Betrachtenden und Hörenden innehalten, berührt vielleicht den innersten, unzerstörbaren Kern des Menschen, der ganz zu Beginn und ganz am Schluss des Lebens sichtbar und spürbar wird: Unser Angewiesensein aufeinander, unsere Geburtlichkeit.
YJP: Kunst lehrt uns hinzuschauen. Der Kunst aufmerksam «zuzuhören», sie aufmerksam zu betrachten, schärft unsere Sinne fürs Leben. Mit geschärftem Sinn anzuschauen, was um uns herum passiert, und in sich selbst hineinzuschauen, kann helfen, die nötigen Schlüsse für eigenes Handeln und Verhalten hin zu einer friedlicheren Welt zu ziehen. Mit diesem Angebot der Sensibilisierung hat Kunst durchaus eine friedensstiftende Kraft.
«…und plötzlich».
Wie muss ich den Titel verstehen? Was bedeuten das Buch und die Ausstellung für Sie persönlich?
AL: Und plötzlich war der Krieg so nahe, war es vorbei mit unserem unbeteiligten Zuschauen, mit dem ruhigen Gewissen – was draussen passiert, hat etwas mit uns zu tun. Und plötzlich muss ich aktiv entscheiden: Was will ich sehen, wo will ich hinschauen, wo drehe ich den Kopf weg?
YJP: Ich habe dank unseres Projekts viel nachgedacht und gelernt. Mit unseren Veranstaltungen und unserem Buch stellen wir uns gegen die Barbarei und laden möglichst viele Menschen dazu ein, sich selbst auf eine andere Art mit der Frage der Menschenwürde und der eigenen Verantwortung in dieser Welt zu konfrontieren.
Titelbild: Enya | 2023 | Acryl und Collage auf Leinwand (Ausschnitt).
Zur Malerin und zum Autor
Yolanda Jacot-Parel, geb. 1956 in Bern, liess sich schon in den 70er-Jahren in bildnerischer Gestaltung in Bern und Paris ausbilden. Nach dem Rechtsstudium an der Universität Bern, Familienarbeit und neben ihrer Tätigkeit als Juristin hat sie sich ab 2007 der Kunst verschrieben (Keramik, Malen, Zeichnen). Seit 2012 zeigt sie ihre Arbeiten in Einzel- und Gruppenausstellungen. Heute arbeitet sie als freischaffende Künstlerin und regt mit ihren abstrakten Werken die Kreativität der Betrachtenden an.
Angelo Lottaz, geb. 1956 in Bern, Theologe und Psychotherapeut, hat beim Aufbau des Therapiezentrums für Folteropfer des SRK in Bern mitgewirkt und dort mehrere Jahre als Psychotherapeut gearbeitet. Heute führt er seine eigene Praxis als Psychotherapeut, Supervisor und Ausbilder in Personzentrierter Psychotherapie in Bern. Er hat theologische und psychotherapeutische Fachartikel sowie den Roman «Totetänz» (berndeutsch) veröffentlicht.
Das Buch
Yolanda Jacot-Parel | Angelo Lottaz „…und plötzlich“ Bilder und Gedichte Mit Geleitworten von Pedro Lenz und Arthur Freuler Edition Königstuhl 112 Seiten 17 x 24 cm | Hardcover ISBN 978-3-907339-94-7
Veranstaltungshinweise:
Für die Ausstellung und die Buchvernissage wählte das Künstlerpaar einen Ort der Stille, die Nydeggkirche in Bern.
Die Ausstellung zu den Gedichten «… und plötzlich» von Angelo Lottaz und Bildern von Yolanda Jacot-Parel findet statt in der Nydeggkirche Bern, Nydeggstalden 9, 3011 Bern. Vernissage ist am 9. März 2025, 11.30–17 Uhr. Die Öffnungszeiten der Ausstellung: 10. bis 15. März: Mo–Fr 10–17 Uhr, Sa 14–19 Uhr.
Die Buchvernissage, ein Event mit Wort, Bild und Musik, findet statt am 15. März 2025 um 19 Uhr in der Nydeggkirche Bern, Nydeggstalden 9, 3011 Bern. Sprecher Rudolf Rosen. Musik: Hassan Taha, Bildprojektion Rufus Spyra.
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