Carol Rama, die italienische Non-Konformistin und Pionierin feministischer Kunst, erhält gegenwärtig im Kunstmuseum Bern die erste umfangreiche Retrospektive in der Schweiz. – Ein weiteres Highlight der italienischen Kunstszene im 20. Jahrhundert.
Olga Carolina Rama, 1918 in Turin geboren und dort 2015 gestorben, stürzt sich geradezu in die künstlerische Tätigkeit. Schon als Jugendliche beginnt sie zu zeichnen und zu malen. Man möchte meinen, eine Ausbildung hätte ihr zu viel Zeit gestohlen, sie blieb Autodidaktin, und was für eine!
Das Kunstmuseum präsentiert rund 110 Werke aus siebzig Jahren Schaffenszeit. In sechs Kapiteln lernen wir die vielen Facetten einer rebellischen, bis ins Alter eigenwilligen Frau kennen. Ihre Experimentierfreudigkeit, ihre Radikalität, Witz und Materialvielfalt prägen ihre Arbeiten. Einordnen lässt sich dieses unkonventionelle Werk nicht. Unabhängig von Schulen und künstlerischen Gruppierungen schuf sie ein sehr persönliches und teilweise provozierendes Werk. – «Eine Künstlerin, die sich ständig neu erfindet», wird man im Rückblick über sie sagen.
Carol Rama in ihrer Atelierwohnung, 1994. Foto: Pino Dell’Aquila © 2025 Pino Dell’Aquila
«Für mich war die Arbeit, die Malerei, immer etwas, das mir das Gefühl gab, weniger unglücklich, weniger arm, weniger hässlich und sogar weniger ignorant zu sein … Ich male, um mich selbst zu heilen.»
So wird Carol Rama in einem Interview von Corrado Levi und Filippo Fossati 1997 zitiert.
In die Selbstständigkeit geworfen
Schon in den frühen 1940er-Jahren bezog Carol Rama ihre Atelierwohnung in Turin, die zum lebenslangen Mittelpunkt ihres Lebens und ihrer Kunst wurde und zum Treffpunkt ihrer Freunde und Freundinnen, Intellektueller und künstlerisch Tätiger. Man Ray gehörte später zu diesen oder Italo Calvino. Im Laufe der Jahrzehnte entwickelte sie verschiedene künstlerische Ansätze.
Carol Rama: Man Ray, 1984. Tusche und Filzstift auf Papier 22 × 17 cm Collezione Mario De Giuli Foto: Massimo Forchino © 2025 Archivio Carol Rama, Torino
Erst im zweiten Raum blicken wir auf die Arbeiten der jugendlichen Carol Rama. An der Serie Appassionata («Die Leidenschaftliche») arbeitete sie zwischen 1936 und 1945. Es sind erotisch aufgeladene Aquarelle, sexuelle Darstellungen von Frauen, ästhetisch schön, aber im krassen Widerspruch zur Moral der Gesellschaft. Noch heute rücken einige Medien die Künstlerin als Feministin allein in diesen Fokus.
Es sind darunter zarte Bilder, die uns zeigen, wie verletzlich Sexualität und Liebe sein können, und vergänglich allemal. Inzwischen kennen wir andere Künstlerinnen oder Performerinnen, die sich nicht scheuen, diese Themen in ihre Kunst einzubeziehen, es seien hier nur Miriam Cahn oder Marina Abramović genannt.
Carol Rama: Ohne Titel (Maternità) [Mutterschaft], 1966, Emaillefarbe, Klebstoff und Puppenaugen auf Leinwand 90 x 70 cm. Privatsammlung, Turin Foto: Gabriele Gaidano, Turin © 2025 Archivio Carol Rama, Torino
Die Entschleierung des Weiblichen
An anderer Stelle sehen wir ein starkes Gemälde, das 1966 entstanden ist und der «Feministin» Carol Rama zugeordnet wird: Ohne Titel (Maternità, d.h.: Mutterschaft). Es zeigt den Muttermund einer Frau bei einer Geburt in kräftigem Blutrot mit schwarzen Glaskugeln, es sind Glasaugen, die für Puppen verwendet werden. Wofür diese kleinen schwarzen glänzenden Kugeln stehen, bleibt der Betrachterin überlassen. Vielleicht können nur Frauen ermessen, wie ausdrucksvoll Carol Rama die Urkräfte darstellt, die bei einer Geburt wirken. Hoffnung, Schmerz, Gewalt und Freude ballen sich in dieser Situation zusammen.
Schwieriges Aufwachsen
Wer ist diese Frau, die sich besonders in jungen Jahren über die Konventionen des katholischen Umfelds in Italien hinwegsetzte, die Zeit des Faschismus, in der sie aufwuchs, hinter sich liess, und es wagte, in Kunst zu verwandeln, was sie als junge Frau fühlte und erlebte. Ihre Serie Appassionata hätte sie nämlich nach dem Ende des 2. Weltkriegs ausstellen wollen – es wäre ihre erste Ausstellung gewesen -, was ihr aber von den Behörden verboten wurde, wahrscheinlich auf Betreiben der katholischen Kirche.
Carol Rama: I due Pini (Appassionata) (La signora Macor), 1939, Aquarell, Tempera und Buntstift auf Papier 33,7 x 23,6 cm. Privatsammlung Foto: Pino Dell’Aquila © 2025 Archivio Carol Rama, Torino
Carol Rama hatte schwierige Jugendjahre hinter sich. 1918 wurde sie als jüngste Tochter von Marta und Amabile Rama geboren. Die Firma ihres Vaters in Turin fertigte Autoteile und ermöglichte der Familie zunächst ein bürgerliches Leben. Bereits als Jugendliche musste Carol miterleben, wie ihre Eltern in psychiatrische Kliniken eingewiesen wurden. Als sie ihre Mutter in der Klinik I Due Pini besuchte, schärfte sich ihr Protest gegen gesellschaftlich gesetzte Regeln und Zwänge. Ihr Vater starb 1942 vermutlich durch Suizid, nachdem seine Firma bankrott gegangen war.
Der persönliche Ausdruck im Portrait
Parallel zur Appassionata schuf Carol Rama Ölgemälde auf Leinwand, die meisten davon Porträts oder Selbstporträts. «Rama befreite das Porträt weitgehend von der Ähnlichkeit mit dem Modell», lesen wir dazu. Es sind zum Teil sehr abstrakte Portraits, reduziert erscheinen sie als farbige Flecken, formlos, vermischt mit grotesken und surrealen Elementen – eher Mischwesen als lebende Menschen.
Carol Rama: Ohne Titel (Selbstbildnis), 1937, Öl auf leinwandverstärktem Karton 34,5 x 27 cm Ursula Hauser Collection, Switzerland Foto: Archiv Ursula Hauser Collection © 2025 Archivio Carol Rama, Torino
Auf dem Weg zu Abstraktion und Experimenten mit Materialien
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wandten sich viele Künstler und Künstlerinnen der Abstraktion zu, als Abgrenzung zur Kunst des Faschismus. Carol Rama wurde Mitglied der Gruppe Movimento Arte Concreta. Sie entwickelte für sich eine klare, abstrakte Bildsprache und experimentierte mit unterschiedlichen Medien.
Zu Beginn der 1960er-Jahren erweiterte Carol Rama ihre Werke mit Objekten aus ihrem Alltag. In einer Zeit des gesellschaftlichen und politischen Aufbruchs, der Konsumkritik und des Protests gegen die traditionelle westliche Kunstauffassung sollten Kunst und Alltag zusammengeführt werden. So entstand die Arte Povera. Rama malte mit Klebstoff, Emaille-, Öl- und Sprühfarbe; sie verwendete Metallspäne, Farbtuben, Puppenaugen und vieles mehr. Der Dichter Edoardo Sanguineti, ein enger Freund Ramas, bezeichnete ihre Materialexperimente 1964 als Bricolage (Bastelei).
Carol Rama: Ohne Titel, 1967, Tusche, Klebstoff, Puppenaugen und Sprühfarbe auf Papier 58 x 46,5 cm Privatsammlung Foto: Norbert Miguletz © 2025 Archivio Carol Rama, Torino
Gomme – unkonventionell und mit Erinnerungen behaftet
Strenge, beinahe minimalistische Kompositionen prägten seit Beginn der 1970er-Jahre Carol Ramas Schaffen. In ihrer Werkgruppe der Gomme (Reifen) montierte sie aufgeschnittene Schläuche für Fahrrad- oder Autoreifen auf Leinwände. Form, Raum und Zeit waren dabei ihr Thema. Rama blieb nicht bei minimalistischer Strenge, sie schuf vielschichtige, ambivalente Arbeiten, anschaulich und zuweilen witzig. In der von Fiat geprägten Autometropole Turin stand genug gebrauchtes Gummi zur Verfügung. – Sie nahm es wohl auch in Erinnerung an ihren Vater, seinerzeit Zulieferer für diese grösste Turiner Firma.
Carol Rama. Rebellin der Moderne im Kunstmuseum Bern bis 13. Juli 2025
Titelbild: Carol Rama, Ohne Titel, 1950; Öl auf Leinwand, 80 × 100 cm. Privatsammlung, Turin. Foto: Gabriele Gaidano, Turin © 2025 Archivio Carol Rama, Torino
Gleichsam Wand an Wand sind zur Zeit zwei bisher zu wenig bekannte Turiner Künstlerinnen im Kunstmuseum Bern zu entdecken: Neben Carol Rama ist es Marisa Merz, ebenfalls in Turin beheimatet, der Gruppe arte povera zugehörig. Beide Ausstellungen wurden von Livia Wermuth kuratiert. Die Künstlerinnen scheinen sich persönlich nicht näher gekannt zu haben. Ihre Arbeiten unterscheiden sich grundsätzlich und dokumentieren dadurch die Breite der bildenden Kunst im Italien nach 1945.
Schliesslich sei noch auf eine Ausstellung im Kunstmuseum Basel I Neubau hingewiesen: Medardo Rosso, Bildhauer und Fotograf, ebenfalls in Turin geboren, dann in Mailand und Paris lebend, älter als die beiden Künstlerinnen, aber ebenso modern und unkonventionell.
Medardo Rosso: «Von feinen Verbindungen zwischen Kunstwerken»
Marisa Merz: «Kunst erfasst den Raum mit allen Sinnen»