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Kunst erfasst den Raum mit allen Sinnen

Eine der führenden Kunstschaffenden aus Italiens Nachkriegszeit präsentiert das Kunstmuseum Bern in einer faszinierenden Retrospektive: Marisa Merz, die einzige Frau der Bewegung arte povera, «In den Raum hören».

In Italien entstand in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts die Kunstrichtung arte povera («arme Kunst») als Protest gegen die wachsende Vorherrschaft der Konsumgesellschaft. Diese breitete sich allerdings nicht nur in Italien, sondern in der ganzen sogenannten westlichen Welt aus. Der Protest gegen die Oberflächlichkeit von Besitz- und Gewinnstreben äusserte sich unterschiedlich. Auch die Minimal-Art, von Amerika ausgehend, gehört in diese Bewegung.

Marisa Merz in Florenz 1996. Foto Gianfranco Gorgoni  © Maya Gorgoni

Als einzige Frau zählte Marisa Merz in Italien zu den führenden Vertretern der arte povera, mitbegründet von ihrem Ehemann Mario Merz. Sie benutzte die Materialien, die sie im Hause hatte: Alufolie, Ton, Wachs, Gips, feinen Kupferdraht, Nylonfaden, Papier, Sperrholz u.a. – und Gold (Blattgold), das den Alltagsdingen Glanz und Wert zu verleihen scheint.

Ihre Kunst entfaltete sich aus ihrem Alltag. Kuratorin Livia Wermuth zitiert Marisa Merz: «Es gibt niemals eine Trennung zwischen meiner Arbeit und meinem Leben.» Ihre Art, wie sie mit ihrem Material umging, hat im Laufe der Jahrzehnte viele andere Künstler inspiriert.

Marisa Merz: Scarpetta, 1968. Nylonfaden. 21 x 8 x 6 cm. Merz Collection Foto: Renato Ghiazza  © 2025 ProLitteris, Zürich

Das Schühchen – das ausgestellte scheint die passende Grösse für Marisa Merz zu haben – repräsentiert eine Schnittstelle zwischen Performance und Leben, als Material benutzte die Künstlerin Nylonfaden, der galt damals als modern und modisch. Dazu im Gegensatz die traditionelle Hausarbeit der Frau: der Schuh ist gestrickt.

Marisa Merz (geb. 1926 in Turin, gest. 2019 ebenfalls in Turin) muss eine bemerkenswerte Frau gewesen sein. Verheiratet mit Mario Merz (geb. 1925 in Mailand, gest. 2003 in Turin), schnupperte die junge Frau in der Kunstszene ihrer Heimatstadt, besuchte regelmässig Kunstgalerien und versuchte sich im Tanz und als Model. Tanz blieb ihr ein Leben lang wichtig: Aus der physischen Ruhe des Körpers entsteht eine Bewegung, in der sich wiederum der Körper ausdrückt.

Marisa Merz, Ohne Titel, o.J., Mischtechnik und Paraffin auf Japanpapier auf Teppich. 151 x 110 x 5 cm. Merz Collection. Foto: Renato Ghiazza  © 2025 ProLitteris, Zürich

In diesen Jahren lernt sie ihren zukünftigen Ehemann kennen. Beide sind in der bildenden Kunst Autodidakten. Mario Merz hatte zunächst Medizin studiert, sich dann in der Widerstandbewegung gegen Faschismus und Nationalsozialismus engagiert, weshalb er einige Zeit inhaftiert war. Er war und blieb Kommunist. 1960 heirateten Marisa und Mario in der Schweiz und verbrachten ungeplant ein Jahr im Berner Oberland, ihre Tochter Beatrice kam dort zur Welt.

«Der Künstler hat eine etablierte Rolle, wie diejenige einer Ehefrau oder eines Sohnes. Ich identifiziere mich jedoch nicht mit diesen Rollen», erklärte sie selbst in einem Interview 1985.

Ihr Leben lang weigerte sie sich, ihren Werken Titel zu geben und ein Entstehungsdatum festzulegen. Auch in der Ausstellung ist deshalb keine Chronologie als Orientierung möglich. Es handelt sich zum Teil um Installationen aus feinen Materialien (Kupferdreht), die in Bern nach früheren Fotografien ausgestellt werden; bei einigen Werke brachte ein Vertrauter, der mit der Künstlerin zu ihren Lernzeiten eng zusammengearbeitet hatte, die Installationen an.

Marisa Merz, Ohne Titel, o.J., Rohton, Farbe. 17,5 x 16 x 8 cm. Merz Collection. Foto: Renato Ghiazza  © 2025 ProLitteris, Zürich

Oft stand Marisa Merz im Schatten ihres Mannes – nur wenige Frauen in Italien durchbrachen die Schranken traditioneller Rollen. Doch fand sie – neben Mario Merz – ebenfalls Anerkennung als eigenständige Künstlerin. Mehrmals war sie an der Documenta in Kassel eingeladen. Als sie das erste Mal daran teilnahm, lernte sie Meret Oppenheim kennen. Die beiden standen dort wohl in künstlerischem Austausch, denn spätere Arbeiten von Meret Oppenheim zeigen Einflüsse der arte povera.

Auch anderswo anerkennt man ihre Kunst. Sie kann schon 1969 in Amsterdam an einer internationalen Ausstellung der Minimal-Art teilnehmen, später auch in New York, wo sie als einzige Vertreterin der arte povera gezeigt wird. Ihre grösste Ehrung erfährt sie 2013: Sie wird an der 55. Biennale in Venedig für ihr Lebenswerk mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet. Weitere Ausstellungen in verschiedenen Ländern zeigen die Bedeutung ihrer Kunst.

Ein Blick in die Ausstellung. Im Vordergrund ein Kopf (Material Rohton u.a.), im Hintergrund eine Installation aus sternartigen Vierecken (Kupferdraht). Foto mp

Bei der Gestaltung ihrer Ausstellungen interessierte sich Marisa Merz besonders für die Eigenschaften der Räume. Zeitgenossen sagten über sie, sie habe den «absoluten Blick», in Analogie zum absoluten Gehör. – Der Titel dieser Ausstellung «Ascoltare lo spazio» (in den Raum horchen), ein Zitat der Künstlerin, spielt darauf an. Das lässt mich daran denken, dass alle Tätigkeiten im Haushalt auch Geräusche machen, es klappert, zischt und blubbert, und zu sehen gibt es auch so manches.

Marisa Merz: «Lebende Skulptur» im Treppenhaus des Kunstmuseums Bern aufgehängt (Foto mp)

Exemplarisch dafür hängt im Treppenhaus eine «Lebende Skulptur». Solche «living structures» hingen im Hause Merz verschiedene, wie ein Foto dokumentiert. Die in Bern ausgestellte besteht aus einem halben Dampfabzug und viel Alufolie. Mit Alufolie, einem «intelligenten Material», wie Marisa Merz sich ausdrückt, arbeitete sie oft und gern.

Neben diesen Alltagsinspirationen nahm die Künstlerin ihre Ideen vor allem in ihren späten Jahren aus der mittelalterlichen Kunst. Sie liess sich von byzantinischer Kunst anregen (Ikonen), daneben von Fra Angelico oder von der flämischen Malerei der Frührenaissance. – Die Kraft des Schlichten, des Zarten und Durchsichtigen war ihre Stärke. Köpfe bzw. Gesichter waren zeitlebens ihre wichtigsten Motive. Da zeigt sich nämlich das Wesen, das Lebendige.

Marisa Merz, Ohne Titel, 1979. Pastell auf Kork 110 x 140 cm. Merz Collection (Foto mp)

«Ich interessiere mich nicht für Macht oder eine Karriere. Mich interessieren nur die Welt und ich selbst.» Marisa Merz 1985

«Marisa Merz. ascoltare lo spazio – in den Raum hören» im Kunstmuseum Bern ist bis 1. Juni 2025 anzuschauen.

Titelbild: Ohne Titel, o.J., Rohton, Farbe. 13 x 14 x 14 cm. Merz Collection. Foto: Renato Ghiazzo. © 2025. ProLitteris, Zürich

 

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