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Mit Worten sich dem Menschsein nähern

Heidi hält einen Vortrag über die Skulpturen und Fresken am Rathaus Oslos und setzt die Geschichte Norwegens in einen inneren sexuellen Zusammenhang. Ihre Freundin Marianne ist Ärztin in der Onkologie, wo auch der Pfleger Tor arbeitet. LOVE, der erste Teil der OSLO STORIES von Dag Johan Haugerud zeigt grossartig, wie Intimität, jenseits der Konventionen gelebt, das Leben reicher machen kann.

Mit den OSLO STORIES legt der gefeierte norwegische Schriftsteller und Filmemacher Dag Johan Haugerud ein Meisterwerk vor: eine Filmtrilogie, wie es noch keine gab! LOVE (Venedig, Wettbewerb 2024), DREAMS (Berlinale, Goldener Bär 2025) und SEX (Berlinale, Panorama 2024) sind drei eigenständige Filme mit je neuen Figuren und einer unabhängigen Geschichte. Jeder Teil ist ein Ereignis! Getrennt voneinander werfen sie jeweils einen neuen Blick auf die Dinge, die unser Leben bestimmen, erzählen von Liebe, Sehnsucht und Träumen, hinterfragen Identität, Gender und Sexualität und entwerfen mit faszinierenden Charakteren sowie Empathie und Witz Geschichten, wie wir auch leben können.

Dag Johan Haugerud, * 1964

Die Trilogie ist ein ästhetisches und ethisches Wunderwerk! Das kluge und tiefsinnige Drehbuch, die magistrale Regie von Dag Johan Haugerud, die grossartigen Schauspieler:innen ̶ in LOVE Andrea Bræin Hovig als Marianne, Tayo Cittadella Jacobsen als Tor, Marte Engebrigtsen als Heidi, Lars Jacob Holm als Bjǿrn, Thomas Gullestad als Ole, Marian Saastad Ottesen als Serleig und Morten Svartveit als The Carpender, sind unterstützt durch die Kamera von Cecilie Semec und die Musik von Peder Kjellsby.

 Doch was nützt professionelle Meisterschaft ohne Sinn? Das aber ist die Grösse dieser Trilogie: Jeder der drei Filme sucht und fragt nach dem Sinn des Zusammenlebens, des Lebens. Dies macht der Film auf eine innovative Art und Weise, weshalb ich die einzelnen Geschichten hier weder erzähle noch interpretiere. Das folgende Statement des Regisseurs und das Interview mit ihm machen dies besser.

Der Film In einem Symbol zusammengefasst: Auf überzeugende Weise fächert Dag Johan Haugerud einen wunderbaren Strauss mit all den Möglichkeiten aus, was Liebe sein kann. Uns bleibt nur Staunen: All das ist Liebe, all das gehört dazu ̶ und das kann es auch in unserem Leben geben, man muss es bloss wahrnehmen und leben.

Tor, Marianne und Heidi

 Statement des Regisseurs

LOVE ̶  OSLO STORIES ist ein romantischer Film, der Sexualität, Beziehungen und Liebe erforscht und sich um einen schwulen Krankenpfleger und eine heterosexuelle Ärztin dreht. In vielerlei Hinsicht ist dieser Film utopisch: Er handelt vom Streben nach sexueller und emotionaler Nähe zu anderen, ohne sich dabei unbedingt an die gesellschaftlichen Normen und Konventionen zu halten, die Beziehungen regeln.

Die weibliche Sexualität, die in vielen Teilen der Gesellschaft sowohl von Männern als auch von Frauen ständig unter die Lupe genommen und infrage gestellt wird, ist ein zentraler Schwerpunkt des Films. Wir haben noch nicht den Punkt erreicht, an dem Frauen Entscheidungen in Bezug auf ihre Sexualität und ihr Liebesleben treffen können, ohne sich verteidigen oder erklären zu müssen. Der Film deutet auch an, dass bestimmte Erfahrungen und Praktiken innerhalb der homosexuellen Gemeinschaft wertvolle Erkenntnisse für die Gesellschaft im Allgemeinen bieten könnten.

Aber im Kern geht es im Film um die Frage, wie man Gutes tun kann. Ich glaube, dass Fiktion eine entscheidende Rolle dabei spielt, sich alternative Welten und Perspektiven vorzustellen. Sie ermöglicht es den Menschen, sich auszudrücken und auf ungewöhnliche Weise zu handeln. Für mich besteht eine wichtige Funktion der Fiktion darin, neue Denkweisen im wirklichen Leben zu inspirieren. Mit LOVE und den gesamten OSLO STORIES war es mein vorrangiges Ziel, zu vermitteln, dass neue Denk- und Verhaltensweisen möglich sind. 

Bjǿrn, Tor

Aus einem Interview mit Dag Johan Haugerud

In LOVE treffen wir auf zwei Menschen, die beide nach einer Alternative zur Kernfamilie suchen. Wie einschränkend sind die stereotypen Einstellungen gegenüber Liebe und Beziehungen heute? 

Sie sind vor allem für diejenigen einschränkend, die sich angesichts dieser Einstellungen unfrei fühlen. Da die Kernfamilie die Grundlage für einen grossen Teil des kulturellen Erbes und aller damit verbundenen Traditionen und Zeremonien bildet, ist es unmöglich, sich nicht darauf zu beziehen. Diese Einstellungen prägen auch die Politik und machen es vielen schwer, sich alternative Lebensweisen vorzustellen.

Sie haben gesagt, dass SEX, nicht in erster Linie als realistische Darstellung erlebt werden soll, sondern eher als Skizze möglicher Welten. Inwieweit gilt dies auch für LOVE? Was möchten Sie beim Zuschauer erreichen? Mögliche Welten und alternative Denkweisen zu skizzieren, ist etwas, das Film oft getan hat, auch in Filmen, die als Eskapismus bezeichnet werden. Sie vermitteln ein Bild davon, wie die Dinge sein könnten. Für mich ist dies eine wichtige Funktion der Fiktion. Sie ermöglicht es den Menschen, Dinge zu sagen und auf eine Weise zu handeln, die im wirklichen Leben ungewöhnlich sind. Das bedeutet nicht, dass es in der Realität nicht passieren kann. Ich denke, dass alle Filme der Trilogie auf einer fiktiven Prämisse beruhen, aber dennoch vollständig im Rahmen dessen liegen, was man Realismus bezeichnet.

Genauso wie SEX ein Film über Sexualität ist, ohne viel Sex zu zeigen, ist LOVE ein Film über Liebe, aber nicht mit so viel Romantik. Inwieweit ist dies eine bewusste Strategie Ihrerseits? 

Dem stimme ich nicht zu. In LOVE gibt es viel Romantik. Sehr viel, denke ich. Und in SEX geht es viel um Sex, auch wenn er nicht viel tatsächlichen Sex zeigt. Bei der Strategie, keinen expliziten Sex zu zeigen, handelt es sich um einen Versuch, sich in ein Thema zu vertiefen und ein Gefühl für etwas Wahres zu vermitteln. Und ich denke, es ist äusserst schwierig, expliziten Sex im Film wahrhaftig wirken zu lassen. Zumindest sehe ich das sehr selten. Das meiste, was ich in Filmen an Sex sehe, hat eigentlich gar nichts mit Sex zu tun, sondern mit Nacktheit und dem, was wir als sexuelle Stellungen bezeichnen. 

Würden Sie sagen, dass die Bedingungen für die Liebe durch digitale Begegnungsorte wie Tinder und Grindr einfacher oder schwieriger geworden sind? 

Die Bedingungen für Sexualität sind sicherlich einfacher geworden. Und ich höre oft, dass Menschen auf Tinder die Liebe finden, also hat es das Kennenlernen wahrscheinlich erleichtert. Aber man braucht dort wohl ebenso viel Glück wie in allen anderen Bereichen des Lebens. Es ist bedenklich, dass wir die zerbrechlichsten und intimsten Aspekte des Lebens kommerziellen Plattformen anvertrauen. Aber das ist ein anderes Thema.

Was war Ihnen bei der gesamten Trilogie am wichtigsten zu vermitteln? 

Dass es möglich ist, sich eine andere Art des Denkens vorzustellen.

Titelbild: Marianne und Tor

Zum Weiterdenken

Leserinnen und Lesern, die der Film LOVE so getroffen hat wie mich, empfehle ich, sich an die wohl bedeutendste Wissenschaflerin zum Thema Liebe zu wenden: Eva Illoz.
Einen guten Einstieg bietet ein Text von Sven Behrisch: Das Magazin, Nummer 15, 12. April 2025.
Zur Vertiefung: Eva Illuz: Warum Liebe weh tut, 2011; Warum Liebe endet, 2018; Explosive Moderne, 2024
Und weiter. Googeln Sie durchs Internet…

Regie: Dag Johan Haugerud, Produktion: 2024, Länge: 119 min, Verleih: Xenix

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