StartseiteMagazinKulturZwei grandiose Stimmen – und Rollschuhe

Zwei grandiose Stimmen – und Rollschuhe

Am Opernhaus Zürich hatte am Ostermontag die Oper «Die tote Stadt» von Erich W. Korngold Premiere. Die beiden Hauptpartien sind ausserordentlich fordernd. Der Heldentenor Eric Cutler und die Sopranistin Vida Miknevičiūté machten den Abend zu einem packenden musikalischen Ereignis.

Erich W. Korngold (1897-1957) war lange Zeit vergessen. Seit drei Jahrzehnten wird die Musik dieses Spätromantikers wieder gespielt und geschätzt. Korngold war Jude und galt in Wien als Wunderkind. Die Wiener Hofoper führte schon früh ein Ballett von ihm auf, dann machte er vor allem als gefeierter Opernkomponist Karriere. 1933 emigrierte er in die USA, wo er als Filmkomponist in Hollywood zwei Oscars gewann.

Inspiriert von Sigmund Freuds «Traumdeutung»

«Die tote Stadt» (1920) komponierte er mit erst 23 Jahren. Das Libretto, welches auf Georges Rodenbach Erzählung «Bruges-la-morte» beruht, richtete er mit seinem Vater selbst ein. Es ist unverkennbar beeinflusst von Sigmund Freuds «Traumdeutung», die zwanzig Jahre zuvor erstmals beschrieb, wie verdrängte Sehnsüchte und unbewusste Ängste über Träume ins Bewusstsein gelangen.

Paul (Eric Cutler) trauert immer noch um seine verstorbene Frau, auch wenn mit Marietta eine neue – oder ist es dieselbe? – Liebe auftaicht.

So ergeht es Paul, dessen über alles geliebte Frau Marie früh verstorben ist. Er gibt sich ganz seinem Schmerz über den Verlust hin, bis eines Tages Marietta auftaucht. Sie sieht Marie zum Verwechseln ähnlich, er verfällt ihr, weil er in ihr die wiedergekehrte Marie sieht. Seine Gefühle für Marietta steigern sich in eine Obsession, gleichzeitig plagt ihn das schlecht Gewissen.

Ein Ringen um Leben und Tod

In dieser toten Stadt begehrt Marietta auf. Sie will leben und protestiert vehement gegen die ständige Präsenz der Toten. Bis Paul es nicht mehr aushält und sie umbringt. Doch plötzlich steht Marietta wieder quicklebendig in seinem Zimmer – war alles nur ein Traum?

Das Ringen der beiden um Leben und Tod dauert zwei Stunden und fünfzig Minuten. Korngolds Musik wirkt wie ein Sog, man erkennt darin bereits den späteren Filmkomponisten. Sie ist klangintensiv und schildert das Hin und Her des vermeintlichen Liebespaares mit bildhafter Kraft. Die Arien sind betörend schön, die in sich kreisende Dramaturgie voller Spannkraft.

Marietta (Vida Miknevičiūté) gibt sich nicht zufrieden mit der Rolle einer Lückenbüsserin und muss deshalb sterben.

Die Reife des 23jährigen Wunderkindes ist erstaunlich. Es sind die extrem schwierigen Hauptpartien, die den noch unerfahrenen Opernkomponisten offenbaren. Eric Cutler nahm als Paul die stimmliche und physische Herausforderung voll und ganz an. Er stand fast ununterbrochen auf der Bühne. Dabei musste er die Extreme seiner Gefühle mit lyrischem Schmelz und dramatischer Intensität bewältigen – es war ein sensationelles Rollendebüt.

Nicht minder fordernd ist die Partie der Marietta. Vida Miknevičiūté spielte sie temperamentvoll und erfrischend keck. Die Leichtigkeit der Figur steht aber in krassem Kontrast zur stimmlichen Dramatik. Das Paar steigerte sich dialogisierend in die Obsession, die Verzweiflung und in die Provokation. Vida Miknevičiūté brillierte dabei mit stimmlicher Agilität und virtuosen Ausbrüchen, sie machte aus der Marietta eine selbstbewusst rebellierende Frau.

Intensiv präsentes Orchester

Den Boden für diese beiden Ausnahmesänger legte das Orchester. Unter der souveränen Leitung von Lorenzo Viotti wurde Korngolds üppige Musik prachtvoll ausgebreitet. Dabei hielt Viotti die Klangbalance sorgfältig und sorgte so für farbenreiche Wechsel. Und die dramatischen Zuspitzungen blieben so transparent, dass man die Sängerinnen und Sänger stets gut hören konnte.

Szenenbild aus «Die tote Stadt».

Erstaunlich war, wie präzise Regisseur Dmitri Tcherniakov die Gestik seiner Protagonisten in die Musik hineinführte. Er modernisiert die Geschichte, sie könnte auch heute spielen. Die graue tote Stadt wirkt kühl und modern. Sie schwebt als Wohnblock über einem Rondell, das einer Tiefgarage ähnelt. Die Drehbühne sorgt hier für eine traumhaft schwebende Atmosphäre. In den Fenstern der oberen Etage sieht man den Raum der toten Marie. Paul wandert aber auch durch die anderen leeren Räume, in die dann auch Marietta einzieht.

Auf Rollschuhen singen?

Die Idee des Regisseurs, die feiernden Theaterleute rund um Marietta auf Rollschuhen fahren zu lassen, ist gewöhnungsbedürftig. Gegen Ende fahren auch Pauls Freund Frank – von Björn Bürger mit samtweichem Bariton gesungen – und die Figur der toten Marie auf Rollschuhen über die Drehbühne. Sie wirken alle eher unsicher beim Fahren, das Gleichgewicht zu halten gelingt nicht allen gleich.

Oper geht auch auf Rollschuhen. Ein bisschen wacklig vielleicht, aber es geht. (Allle Bilder Opernhaus Zürich/Monika Rittershaus)

Neben Pauls Freund Frank ist es Brigitta, die Freundin der Verstorbenen, die in dieser Inszenierung ein markantes Profil hat. Evelyn Herlitzius gibt sie mit stoischer Ruhe und «singt» Paul ins Gewissen. So kühl, grau und leer die Szenerie wirkt, die Musik entfaltet sich darin zu einem wahren Schmelztiegel der Gefühle. Das Premierenpublikum wirkte betroffen, feierte dann aber alle Beteiligten mit stürmischem Applaus.

Weitere Vorstellungen: 25 Apr; 2, 6, 9, 17, 21, 29 Mai; 1 Juni

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