Was machen die Bilder mit uns? Was bewirken die Berichte, die Dokumentationen auf allen TV-Kanälen, die Analysen, die Kommentare um ihn, um Papst Franziskus? Und ich frage mich, soll ich mich auf seniorweb.ch auch noch dazu äussern? Ist nicht schon alles gesagt, geschrieben, gefilmt, dokumentiert worden? Ist Franziskus nicht schon hoch in den Himmel hinauf gelobt, nicht schon harsch genug dafür kritisiert worden, dass er nicht viel bewirkt hat, den Zölibat nicht abgeschafft, den Frauen die Tür zu gleichberechtigten Seelsorgerinnen nicht geöffnet hat? Dafür zu nachsichtig mit den vielen Missbrauchsfällen in der Welt der römisch-katholischen Kirche umgegangen ist?
Eines vorweg: Ich bin Katholik, war Ministrant, bin in einer römisch-katholischen Familie aufgewachsen. Meine Mutter verehrte Papst Pius XII. Sein Bild mit strengem Blick hing in ihrem Zimmer. Mein Vater ging eher auf Distanz zu ihm, neigte den liberalen Christlichsozialen zu und nicht der KK, der damaligen Katholisch-konservativen Volkspartei. Mein Grossvater dagegen, ein engagierter, auch belesener Gewerkschafter und Sozialdemokrat, war ein vehementer Kritiker von Papst Pius XII. In der Nazi-Zeit habe der römische Papst, wie er ihn bezeichnete, den Nazi, den Faschisten in Italien zu wenig Widerstand entgegengesetzt, eine unrühmliche Rolle gespielt. Ich habe das damals nicht so richtig verstanden, wenn sie darüber heftig diskutierten. Mich faszinierten die Rituale, die Gesänge, das Lateinische. Und wenn ich ministrierte, war ich sehr darauf bedacht, genau zum richtigen Moment mit der kleinen Glocke zu läuten, wenn der Priester die Hostie, den «Leib Christi» zum Himmel hob.
Später wirkten die Worte meines Grossvaters nach. Ich wurde zum Leidwesen meiner Mutter immer kritischer, begann, die Geschehnisse in Rom zu verfolgen. Verlor aber nie aus dem Gedächtnis, was uns ein Religionslehrer mal mit auf den Weg gab: «Ihr werdet als Katholiken nie das Kreuz auf der Stirne ablegen können, auch wenn ihr es wollt». Noch eine kurze Zeit faszinierte uns Rom. Es war, als Papst Johannes XXIII ab 1958 4 Jahre und 7 Monate lang in Rom segensreich wirkte. Er, der überraschend ein Konzil einberief und grosse Hoffnungen auf die Erneuerung der Kirche weckte. Wegen seiner Bescheidenheit und Volksnähe ging er als Papa buono (der gute Papst) in die Geschichte ein. Für mich war es erst Papst Franziskus, der 50 Jahre später wieder beherzt aufgriff, was Papst Johannes XXIII in Bewegung gebracht hatte: die Erneuerung. Und bereits am ersten Tag seines Pontifikats liess er erahnen, dass er den Menschen immer nahe sein, in ihren Sprachen sprechen, sie verstehen will: Buonsera, fratelli e sorelle, buonasera! (Brüder und Schwestern, guten Abend!)
Mich bewegt die Frage, was hat die eindrückliche Trauerfeier in Rom auf die Grossen dieser Welt bewirkt, auf die beiden Gegenspieler Selenskyj und Trump beispielsweise, die nur durch wenige Personen getrennt voneinander in der vordersten Reihe still mitsahen, mithörten, wie die sehr präsent anwesende römisch-katholische Weltkirche ihren grossen Mann mit all ihren Ritualen einer Trauermesse verabschiedete. Die Beiden spielten keine Rolle, sprangen nur ganz spärlich ins Bild. Wohltuend. Die TV-Bilder hatten lediglich den Zweck, zu beweisen, dass sie tatsächlich dabei waren. Zu hoffen ist, dass sie, vor allem Trump, die eindrücklichen und mahnenden Worte des italienische Kardinals Giovanni Battista Re, des 91-jährigen Dekans des Kardinalkollegiums, verstanden haben, Lehren daraus ziehen: «Baut Brücken statt Mauern.»
Dass sich Selenskyj und Trump während rund 15 Minuten in einem grossen Nebenschiff des Petersdoms, ganz allein, nur sie zwei, ohne Dolmetscher, ohne Einflüsterer, auch ohne den Störenfried Vizepräsident Vance, unterhielten, lässt die Hoffnung aufkommen, dass die beiden doch noch auf Augenhöhe anständig miteinander reden können, gar sich wieder näherkommen können. Dass sie etwas vom Geist Franziskus, der über der eindrücklichen Trauerfeier herrschte, gespürt haben. Dass es nicht nur Interessen von Staaten gibt, sondern von Institutionen wie die der römisch-katholischen Kirche, die weit über die Kontinente hinauswirkt, 1,4 Milliarden Menschen umfasst, die eines nicht zum Ziele hat: andere Länder zu überfallen, andre Staaten sich einzuverleiben. Die eines beschwört: Frieden.
Lieber Anton Schaller,
Ihre Antwort auf meinen «letzten Kommentar» hat mich berührt. Ich dachte dabei auch an die Aussage von Andreas Iten, der mir zu Beginn meiner Schreiberei einmal mailte, dass es für ihn schön sei zu wissen, dass er nicht «ins Leere» schreibe, sondern dass sich Leser:innen zu seinen Kolumnen eigene Gedanken machten.
Seniorweb ist nicht Social Media, zum Glück, trotzdem bin ich der Meinung, dass die vielen guten Beiträge von Ihren unbezahlten Schreiber:innen es verdienen, dass, wenn das Thema interessiert, aus der Leser:innenschaft ab und zu ein durch einen Kommentar und die Bezahlung des angemessenen Mitgliederbeitrages ein kleines Dankeschön verdienen.
So will ich trotz grosser Niedergeschlagenheit über die vielen negativen Nachrichten in den Medien, meiner zunehmenden Altersbeschwerden und das schwer zu ertragende langsame Sterben meiner alten Katze, die als treue Begleiterin seit bald 19 Jahren an meiner Seite ist, und dank Ihrer persönlichen Ermutigung, mich weiterhin auf Seniorweb für eine Vielfalt der Meinungen engagieren. Ich hoffe sehr, dass sich andere Leser:innen dadurch angespornt fühlen und ebenfalls mit ihren persönlichen Gedanken dazu beitragen.
Der Titel Ihrer Kolumne «Baut Brücken, keine Mauern» ist Programm. Der verstorbene Papst Franziskus war auf dem richtigen Weg und hat auch einiges in dieser Richtung bewegt. Doch er war nun mal ein Mann in einer katholischen Männerwelt, da kann man keine Wunder erwarten. Ich deute deshalb die vielen Gottesdienste und Anlässe zu seinem Tod vor allem als Manifestation für die Menschlichkeit, die viele Menschen glauben zu verlieren und als demonstratives Gegengewicht zur aktuellen Politik der Herrschenden.