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„Die Menschenwürde ist unantastbar bis zum Tod“

Am 14. Mai 2025 wurde der Verein „Würde im Alter“ (WIMA) im Lavaterhaus in Zürich gegründet. Was will der Verein? Drei Kurzreferate geben Auskunft.

Seniorweb hat die Gründung des Vereins schon am 11. März 2025 angekündigt und mit dem damals designierten Präsidenten Peter C. Meyer ein Interview geführt. An der Gründungsversammlung vom 14. Mai konnten die Interessierten nun vor Ort von drei Kandidaten für den Vorstand erfahren, was der Verein vorhat.

Umsetzung des Manifests Rechte fragiler alter Menschen

Im ersten Referat erläuterte Peter C. Meyer, warum es nun nötig ist, WIMA zu gründen. Das Manifest „Rechte fragiler alter Menschen“ wurde in einer ersten Fassung schon im März 2021 veröffentlicht unter dem Eindruck, dass während der Corona-Epidemie viele Menschen die Behandlung von älteren Menschen in Pflegeheimen als empörend empfanden. Doch das Manifest hatte nicht die erwünschte Wirkung. Mit der Gründung des Vereins WIMA wird nun versucht, das Manifest umzusetzen.

Peter C. Meyer, em. Titularprofessor für Soziologie Uni Zürich, alt Direktor ZHAW-Gesundheit

Peter C. Meyer betonte, dass WIMA nicht beabsichtige, Dienstleistungen für Einzelpersonen anzubieten. Er gab eine Übersicht über vier strategische Zielrichtungen: Erstens werde man genau hinschauen, dass die Würde aller Menschen, auch der Alten geachtet werde. Zweitens sollen Best-Practices und Missstände kommuniziert werden. Drittens seien durch Stiftungen finanzierte Projekte zur Erhaltung der Würde alter Menschen durchzuführen. Viertens werde man gute Regelungen vorschlagen, auch mit politischen Vorstössen.

Peter C. Meyer skizzierte Projektideen, die in Arbeitsgruppen konkretisiert werden sollen:

  • In der Altersmedizin soll ein Projekt für eine adäquate Medikation in Pflegeheimen gestartet werden.
  • Der Assistenzbeitrag der IV, der ein wichtiges Instrument für die Umsetzung der UN-Behindertenkonvention ist, soll auch von beeinträchtigten Personen über 65 beantragt werden können.
  • Die soziokulturelle Teilhabe im Alter soll durch ein Projekt „Aktionsforschung“ des Instituts für Ergotherapie der ZHAW verbessert werden. Im Blick hat WIMA zudem Projekte für Lese-, Erzähl- und Schreib-Cafés.
  • Institutionen, welche ein würdevolles Leben im Alter begünstigen, sollen mit einem Zertifikat besser sichtbar gemacht werden.

Hohes Risiko für Würdeverletzungen im Alter

Seit der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 wird allgemein anerkannt, dass die Menschenwürde universell, unantastbar, unverlierbar ist und unabhängig von den Lebensbedingungen gilt, also auch im Alter zu achten ist. Trotzdem kommt es im Alter immer wieder zu Würdeverletzungen.

Settimio Monteverde wies im zweiten Referat auf Würdeverletzungen hin, wie sie im pflegerischen Alltag vorkommen:

Settimio Monteverde, Prof. Dr. sc. med. lehrt am Departement Gesundheit der Berner Fachhochschule, ist Klinischer Ethiker am Zürcher Universitätsspital und am Institut für Biomedizinische Ethik der Uni Zürich

  • Als Pflegestudierende gefragt wurden, wann ihre Würde verletzt wäre, geben sie etwa folgende Antworten: Blasenkatheter ohne Einwilligung; im Zimmer eingeschlossen werden bei Bewegungsdrang; eingenässt im Bett liegen über längere Zeit; in nacktem Zustand gepflegt werden; wenn ich urteilsunfähig bin und über mich Witze gemacht werden; wenn das Personal, das mich pflegt, über und nicht mit mir spricht; wenn verletzende Aufnahmen/Videos über mich gemacht werden; pflegerische Verrichtungen gegen meinen Willen; wenn ich von Pflegenden ignoriert werde während der Pflege.
  • Als dieselben Pflegestudierenden gefragt wurden, welche Würdeverletzungen sie im Praktikum bei Pflegebedürftigen beobachtet haben, kam beispielsweise Folgendes zum Vorschein: Weglaufgefährdete oder umherwandernde Bewohner*innen während der Nacht im Zimmer eingesperrt; kein Wechsel des Inkontinenzmaterials; Glocke bei Patient*innen, die oft läuten, ausgesteckt; Klient*innen mit Demenz im Wohnzimmer eingeschlossen (Spitex); Anliegen der Patient*innen werden auf Visite ignoriert; Patient*innen über Risiken der Behandlung nicht informiert; etc.
  • Diese Diskrepanz, so Monteverde, sei beunruhigend. Zu Würdeverletzungen haben Forschende Taxonomien beschrieben, z.B. Jonathan Mann (1998): nicht gesehen werden; gesehen werden, aber nur als Teil einer Gruppe, Eindringen in die Privatsphäre; Demütigung (z.B. in der Gegenwart anderer beschimpft werden). Eine weitere Taxonomie stammt von Jacobsen (2009), die folgende Merkmale von Würdeverletzungen in sozialen Prozessen aufzählt: Unhöflichkeit; Gleichgültigkeit; Herablassung; Kleinmachen; Geringschätzung.

Bei diesen Würdeverletzungen stelle sich die Frage, was auf den individuellen Umgang mit Pflegebedürftigen zurückzuführen ist und inwiefern systemische und strukturelle Probleme vorliegen, die gelöst werden müssen.

Settimio Monteverde schliesst aus Erfahrungen von Pflegenden und aus Taxonomien von Forschenden: „Die Würde ist fragil. Würdeverletzungen sind alltäglich und können Teil einer Routine werden (Normalisierung, Banalisierung). Es braucht ein aktives Engagement für menschenfreundliche (=würdeachtende) Gemeinschaften. Dieses ist im Interesse aller. Menschen, die altersbedingt verletzlich sind, haben ein erhöhtes Risiko für Würdeverletzungen.“

Problematische Medikation in Pflegeheimen

Im dritten Kurzreferat ging Christian Marti auf die Gefahr der Übermedikation im Alter ein.

Christian Marti, Hausarzt im Ruhestand, ehemaliger EQUAM-Auditor für Medikationssicherheit

Beim Einsatz von Medikamenten hebt Christian Marti zwei Probleme hervor:

  • Polymedikation: Bei einer hohen Anzahl von abgegebenen Medikamenten können sich durch Wechselwirkungen zwischen den Medikamenten lebensqualitätsmindernde Nebenwirkungen ergeben. Wenn 5 oder mehr Wirkstoffe gleichzeitig abgegeben werden, spreche man von Polymedikation.

Zu den Fakten: „2022 bekamen Pflegepatienten in schweizerischen Pflegeheimen durchschnittlich 9.3 verschiedene Substanzen täglich. Fast die Hälfte, 46% erhalten 9 oder mehr Medikamente.“ (BAG 2022). Zwischen den Kantonen und innerhalb von Kantonen gebe es grosse Unterschiede des Medikamenteneinsatzes, welche durch medizinische Gründe nicht erklärbar seien.

  • Problemmedikation „atypische Neuroleptika“: In Pflegeheimen werden atypische Neuroleptika an Bewohnende von Pflegeheimen abgegeben, welche eigentlich für schwere Geisteskrankheiten wie Schizophrenie oder bipolare Störungen vorgesehen seien. Nebenwirkungen seien auf körperlicher Ebene etwa gehäufte Stürze und Rhytmusstörungen, was die Sterblichkeit erhöhe. Psychische Auswirkungen seien Schläfrigkeit, Apathie und die Unfähigkeit, Freude zu empfinden. Zu den Fakten: Giger, Anliker und Bartelt, welche in den Jahren 2019/2020 die Situation in 619 Pflegeheimen, gestützt auf 92 000 klinische Assessments, untersucht haben, „stellten fest, dass 37% aller Pflegeheimpatienten atypische Neuroleptika erhielten, ohne an einer Schizophrenie oder an einer bipolaren Störung zu leiden. Die meisten von ihnen erhielten sie nicht vorübergehend, sondern langfristig, jedenfalls länger als 90 Tage. Bei 11% lag keine klare erkennbare medizinische Indikation vor. Die Autoren vermuten, dass die Neuroleptika in vielen Fällen als Beruhigungs- und Schlafmittel eingesetzt werden.“

Fazit von Christian Marti: „Wenn Menschen medikamentös ruhiggestellt werden, ohne Ausschöpfung von pflegerischen und sozialen Massnahmen, wenn Menschen ohne ausdrückliche Zustimmung Off-Label behandelt werden, dann verletzt das ihre Würde.“ (Ein off-label-use ist ein Einsatz von Medikamenten ausserhalb der gesetzlichen Zulassung, der nicht verboten ist beim Vorliegen einer ausdrücklichen Zulassung des Patienten oder des gesetzlichen Vertreters und wenn er ärztlich begründet und dokumentiert ist.)

Nach der Gründung von WIMA formuliert der gewählte Präsident Peter C. Meyer folgende nächste Schritte: Strategieentwicklung mit Unterstützung von Miriam Wetter;  Erstellen einer Vereins-Website und von Social-Media Accounts; Antrag auf Steuerbefreiung beim Kt. Zürich; Personen suchen für Mitarbeit in Arbeitsgruppen und Projekten; Konkretisierung und Umsetzung von Projektideen; Finanzierung der Projekte durch Stiftungen, Fundraising.

Der Titel des Artikels «Die Menschenwürde ist unantastbar bis zum Tod» ist ein Zitat aus dem Manifest Rechte fragiler alter Menschen. Seniorweb wünscht dem neu gegründeten Verein gutes Gedeihen, viel Kraft, Ausdauer und Erfolg.

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Titelbild: Der gewählte WIMA-Vorstand (vl.): Christian Marti (Präsident Seniorenverein Fehraltorf, Hausarzt im Ruhestand, Dr. med.), Gisela Heim (Leiterin Alterszentrum Rosental, Sozialwissenschaftlerin, Projekt- und Organisationsberaterin), Inèz Scherrer (Dipl. Psychologin/Graphologin IAP, Mentaltrainerin), Settimio Monteverde (Klinischer Ethiker, Dozent an Berner FH und UZH, PhD, MME, RN), Peter C. Meyer (gewählt als Präsident von WIMA, ehem. Direktor ZHAW-Gesundheit, em. Titularprofesor für Soziologie Uni ZH), Rebekka Gemperle (Pflegeexpertin, VR Spital Affoltern; ehem. Pflegedirektorin PUK ZH), Christiane Mentrup (Leiterin Institut für Ergotherapie ZHAW, Prof., MSc Karolinska Inst.) Alle Fotos bs.

Interview mit Peter C. Meyer über das Manifest Rechte fragiler alter Menschen im Seniorweb

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2 Kommentare

  1. Im Alter wird man verletzlicher; der körperliche und geistige Verfall kommt in die Endrunde, der eine früher, die andere später. Das ist nicht schön, aber eine Tatsache. Damit muss man erst einmal klar kommen. Ich konnte mit meinen Gebrechen bisher relativ gut umgehen und habe sie für mich akzeptiert. Enttäuscht werde ich zunehmend von der mich umgebenden Gesellschaft. Als alte Frau wird man kaum noch gesehen und gehört oder wird in die Schublade der Vorurteile befördert.
    Solange ich noch die Kraft habe, mich dagegen zu wehren, ist meine Würde noch einigermassen in Takt. An Tagen, an denen es mir nicht gut geht, meide Menschenansammlungen. Der Weg zum Tod möchte ich mit Würde und Respekt gehen. Deshalb braucht es dringend Verbesserungen in der öffentlichen Wahrnehmung der Bedürfnisse und Anliegen der alternden und immer älter werdenden Gesellschaft. Dazu trägt u.a der neu gegründete Verein «Würde im Alter» WIMA wesentlich dazu bei. Ich hoffe, er ist laut und präsent genug, um den Mainstream zu übertönen.

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