Wie durch ein Wunder überlebt die Klavierstudentin Laura bei einem Ausflug  einen schweren Autounfall. Körperlich unversehrt, aber innerlich aus der Bahn geworfen, kommt sie im Haus von Betty unter. Vom ersten Moment an verbindet die beiden Frauen eine tiefe Zuneigung. Mit «Miroirs No. 3» hat Christian Petzold einen grossen Film über die menschliche Kommunikation geschaffen.

Als Einstieg dient mir, wieder einmal, der ungarische Filmtheoretiker Béla Balàsz (1884 ̶ 1949) mit seiner Aussage: «Der Film kennt keine reine Äusserlichkeit und keine leere Dekorativität. Eben weil im Film alles Innere an einem Äusseren zu erkennen ist, ist auch an allem Äusseren ein Inneres zu erkennen.»

In diesem Sinne verstanden, lässt uns Christian Petzolds Film «Miroirs No. 3» eine unbeschwerte, glückliche Zeit des Zusammenseins in einem Spätsommertraum geniessen, dem sich Laura und die Familie nur zu gerne überlassen. Doch da ist etwas, was nicht stimmt: ein dunkler Schmerz, der alle vier verbindet, doch unausgesprochen bleibt. 

Laura, eine junge, einsame Frau, die im Leben nicht mehr weiter weiss, und eine Familie, die mit ihrem Zusammenleben am Ende ist und die man mit dem Romananfang von Leo Tolstois «Anna Karenina» beschreiben kann: «Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich». Ein Beispiel, wie der Filmemacher immer wieder mit seinem Film auf die Literatur und mit der Literatur auf seinen Film verweist.

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Betty 

Die Familie und die junge Frau sind am Fallen. Auch dieses Bild stammt aus der Literatur. In einem Brief von Heinrich von Kleist gibt es die Schilderung einer schlaflosen Nacht. Er läuft verzweifelt aus der Stadt hinaus in die Nacht. Als er das Stadttor passiert und unter dem Torbogen steht, blickt er hinauf, mustert den Bogen und erkennt, dass alle Steine fallen wollen, sich im Fallen verkanten und dabei einen Torbogen bilden, unter dem man sicher ist. Vielleicht bilden viele Geschichten des Kinos und der Literatur solche Bögen und schützende Hohlräume im Unglück, meint der deutsche Regisseur.

Indem Literatur, wie beispielsweise «Tom Sawyers Abenteuer», in den Film integriert wird, können wir Anteil nehmen an weiteren Lebenswelten, hier der Welt der Handwerker, bei denen wir erfahren, wie sie ihre Probleme lösen oder zu lösen versuchen.

miroirsno3 filmstill2.Betty mit Laura 

Als akustisches Fundament für die Geschichte erweist sich, was der Filmtitel schon andeutet, die Musik: «Miroirs No. 3», benannt nach dem bekannten Zyklus «Spiegelbilder» mit Klavierstück von Maurice Ravel , dessen dritter Teil «Une barque sur l’océan» heisst und in einer kurzen Szene eingebaut wird. Der Film erzählt, so der Autor, «berührend und intim von der Fragilität des Lebens, von Verlust, Schmerz und Liebe, von der Überwindung der Verzweiflung durch die Flucht in ein sehenden Auges geträumtes Leben».

Auf eine eigene Weise tröstlich und tiefsinnig ist Petzolds 19. Film, in dem er das Drehbuch schrieb und Regie führte. Getragen wird er vor allem vom Zauber der warmen, klaren Bilder von Kameramann Hans Fromm und dem sensiblen Spiel der Darsteller:innen, Paula Beer als Laura, Barbara Auer als Betty, Matthias Brandt als Richard und Enno Trebs als Max.

miroirsno3 filmstill7.Richard und Max 

Der Film lebt von kaum merklichen Verschiebungen der Perspektiven und Konstellationen, von Blicken, die nach Sinn fragen, von Fragmenten, die auf frühere Szenen verweisen, vom Übermalen des Zauns vor dem Haus mit weisser Farbe und von unzähligen Anspielungen, scheinbaren Nebensachen und zufälligen Seitenblicken. Eben weil im Film alles Innere an einem Äusseren und darum an allem Äusseren ein Inneres zu erkennen ist, wie es der ungarische Filmkritiker, Ästhetiker, Schriftsteller, Drehbuchautor, Librettist, Regisseur und Dichter beschrieben hat. 

Wer «Miroirs No. 3» in Petzolds Oeuvre einordnen will, kann es mit Erinnerungen an einige seiner früheren Werke versuchen: mit «Die innere Sicherheit» (2000), «Barbara» (2012), «Phoenix» (2014), «Transit» (2018) und «Roter Himmel» (2023).

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Die neue Familie? 

Resilienz 

Thematisch gehört «Miroirs No. 3» wohl zu den nicht wenigen Filmen, die sich mit dem Thema «Resilienz» befassen. Deshalb soll der Begriff hier mit KI umschrieben werden: «Resilienz ist die psychische Widerstandsfähigkeit eines Menschen, also die Fähigkeit, schwierige Lebenssituationen, Krisen und Rückschläge ohne dauerhafte Beeinträchtigung zu überstehen und sich danach wieder aufzurichten, manchmal sogar gestärkt. Diese Fähigkeit ist nicht angeboren, sondern kann durch verschiedene Faktoren wie soziale Unterstützung, gesunde Lebensweisen und Problemlösungsstrategien erlernt und trainiert werden. Resilienz ist ein dynamischer Prozess, der sich im Laufe des Lebens verändern kann und nicht immer für alle Lebensbereiche gleich stark ausgeprägt ist.»

In diesem Sinn könnte sich ein Vergleich von «Miroirs No. 3» mit dem vor Kurzem in den Kinos gezeigten «Hôtel Silence» der kanadisch-schweizerischen Regisseurin Lea Pool als aufschlussreich und weiterführend erweisen.

miroirsno3 filmstill3.Auf dem Weg zu sich 

Das Kunstwerk 

Was das Team, das man schon als Petzold-Familie vorgestellt hat, mit «Miroirs No. 3», hinter und vor der Kamera, geleistet hat, darf als grossartig und meisterhaft bezeichnet werden, in meinen Augen gibt es darüber keine Diskussion, nur Respekt und Bewunderung. Diese kreativen Menschen laden uns ein, da und dort im Film ein Stück aufscheinende Wahrheit wahrzunehmen. Das ist schön, befriedigend und macht glücklich. 

Einem Cineasten wie Christian Petzold, der gleichzeitig ein ausgezeichneter Schreiber ist, zuzuhören und zu folgen, ist ein Vergnügen und bereichernd. So auch das Interview, das ich vom Schweizer Verleiher übernommen habe und im Anhang integral wiedergebe. Sein Wissen und seine Erfahrung helfen nicht nur bei diesem, sondern bei jedem andern Arthouse-Film für ein besseres Verständnis und im Grund auch uns persönlich bei gesellschaftlichen, menschlichen und ästhetischen Fragestellungen. Die Lektüre des Textes, vor oder nach dem Filmbesuch gelesen, bietet höchstwahrscheinlich einen schönen Mehrwert.

Interview mit Christian Petzold

Regie: Christian Petzold, Produktion: 2025, Länge: 87 min, Verleih: Filmcoopi