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Der Abschied von der Freiwilligenarbeit tut weh

Viele Seniorinnen und Senioren arbeiten nach der Pensionierung als Freiwillige weiter. Was geschieht, wenn das Alter später erfordert, dass sie aussteigen? Freiwilligenarbeit macht Sinn. Der Ausstieg macht Angst.

Manuela Güttinger verliert ihre Ämter. Sie war zwölf Jahre Gemeindepräsidentin. Dann trat Manuela Güttinger (Namen geändert) von allen Ämtern zurück. An ihrer letzten Gemeindeversammlung ehrte man die 69-Jährige mit dem vollen Programm: Reden, Blumen, Reisegutscheinen. An der nächsten Versammlung lobte der neue Präsident, dass er viel von der Vorgängerin profitiert habe. Ein Jahr später erwähnte man ihre Leistungen im Rahmen der Präsenzliste. Vor der nächstjährigen Versammlung fragte der neue Gemeindeverwalter, ob man die «wie heisst sie doch gleich?» speziell einladen soll. «Ja, Ja», antwortete der nun auch nicht mehr so neue Präsident. Es war die letzte Erwähnung in der Sache Güttinger.

Wir erkennen: Ruhm und Ansehen verblassen. Den Hinterbliebenen tut das nicht weh. Frau Güttinger schon.

Es gibt Abertausende von Ratgeberbüchern zur Pensionierung. Die Empfehlungen zusammengefasst: «Macht nur noch, was ihr wollt». Für den nächsten Sprung jedoch haben die Ratschlägerinnen und -schläger keine Vorschläge. Es gibt keine Empfehlungen, was zu tun ist, wenn wir unsere freiwilligen Taten aufgeben müssen. Sei es, weil wir nicht mehr benötigt werden. Sei es, weil die Augen, das Gehirn, das Gehör, die Kraft nicht mehr ausreichen. Oder sei es, weil Altersbarrieren hinuntergehen.

Ruedi Winterberger verliert den Tritt. Schon vor seiner Pensionierung betreute Ruedi Winterberger das regionale Wanderwegnetz. Er kümmerte sich um die Wegweiser, räumte kleine Hindernisse fort und meldete gröbere Schwierigkeiten der Zentrale. Nachdem er in Rente gegangen war, vergrösserte er seinen Einsatz. Bei jedem Wetter mit seinem Hund Emil durch Feld und Wald zu wandern, der Natur nahe zu sein, gab Sinn und Erfüllung. Doch dann meldete sich das Knie, später die Hüfte und wenns bergauf ging, musste er öfters einen Halt einschalten. Als die Schmerzen zu stark wurden, musste er die Hüfte operieren lassen. Werner gab 77-jährig auf.

Der Regionalleiter der Wanderwege besuchte ihn noch im Spital. Später bekam er von ihm einen sehr persönlichen Brief. «Lieber Werner, mit deiner Herzenswärme und deinem Fachwissen wirst du uns in allerbester Erinnerung bleiben.» Auch die Zentralstelle meldete sich – mit Textbausteinen. Ruedi fiel in ein Loch, das viel tiefer war als das strübste Tobel in seiner Region. Dazu kam, dass die Schnauze von Wanderhund Emil immer weisser wurde. Emil verlor zusehends die Lust, den Apricot-Kleinpudel Chouchou ordentlich auszubellen.

Auf den Schweizer Wanderwegen kommt man weiterhin sicher voran. Ruedi Winterberger jedoch fiel aus dem Tritt.

Vom Lorbeerkranz zum Vergissmeinnicht. Die jungen Alten werden umworben. Die alten Alten werden vergessen. Bild: Peter Steiger

Für den Einstieg ins Rentneralter gibt es mehr Ratgeberbücher als AHV-Bestimmungen. Den Ausstieg aus der Freiwilligenarbeit jedoch muss man ohne Hilfe schaffen. Immerhin liefert das Coaching-Gewerbe allgemeine Hinweise zum Abschiednehmen. Sie ähneln den Textbausteinen, mit denen Wanderwegexperte Winterberger beim Abschied bedacht wurde.

Soziale Netzwerke pflegen ● Eigenes Tun neu definieren ● Frühzeitig vorsorgen ● Nachbarschaftshilfe ● Enkel- oder Kinderbetreuung ● Einkäufe für andere übernehmen ● Blumen giessen ● Haustiere versorgen ● Wissen und Erfahrung weitergeben ● Schreiben, Malen, Fotografieren oder Musik machen ● Urban Gardening oder Gemeinschaftsgarten betreuen ● Telefonketten oder Video-Stammtische einrichten.

Na also. Wer will denn da noch vereinsamen?

Monika Balsiger verliert ihre Aufgabe. Rolf Locher verliert mit. Monika Balsiger, 77, brachte im Heim jeden Abend nach der Tagesschau den körperbehinderten Rolf Locher zu Bett. Sie tat das seit Jahren, weil Herr Locher die Tagesschau als Informationsquelle braucht und weil das Personal um diese Zeit schon weg ist. Das funktionierte bis die Heimleitung Frau Balsiger erklärte, dass sie diese Aufgabe nicht mehr übernehmen darf. «Die Gleichstellung, wissen Sie», erklärte die Heimleitung – meinte aber was ganz anderes. Weil Monika Balsiger nicht mehr gut zu Fuss ist, glaubte die Leitung, dass die Hilfe für Herrn Locher die Freiwillige überfordert.

Nun übernimmt das eh schon überlastete Heimpersonal diesen Einsatz an zwei Abenden in der Woche. Darunter leiden Herr Locher und Frau Balsiger.

Frau Güttinger, Herr Winterberger, Frau Balsiger und viele, viele andere. Was sie erleben, kann man zur grossen Herausforderung hochstilisieren. Oder als grossen Verlust erleiden. Wir verlieren Sinn, Lebensqualität, Struktur, Identität, Wertschätzung.

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6 Kommentare

  1. Danke für Ihren Artikel. Genau das erlebe ich zurzeit. Und kann nicht damit umgehen. Ihr Artikel wird mir helfen, einen anderen Umgang zu finden

  2. So ist das Leben nun mal, nichts ist von Dauer. Sind wir doch dankbar für die erfüllende Zeit die wir hatten, für die jahrelange Anerkennung unseres Tuns und stimmen wir nicht ein in den allgemeinen Grabgesang der (Ego)Verluste.
    Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist. Vielleicht erinnern Sie sich 😉
    https://www.youtube.com/watch?v=9iWKSdqLqVw

  3. Treffender hätte die Beschreibung dieser «Nachpensionierungszeit» nicht sein können.
    Jeder vergisst, dass auch er älter wird und selber einmal an diesem Punkt stehen wird.
    Das Rad dreht sich immer weiter!

  4. Genau gleich denke ich, wie Regula!
    Sind wir doch einfach dankbar, dass wir noch soviel machen können, erleben dürfen, unternehmen können, dass wir so lange leben dürfen! Liebe Menschen von mir sind nicht mehr da….

  5. Ein fortwährender Prozess von Veränderung, Sinnsuche und sich neu entdecken. Verabschieden hat bei mir immer auch mit Trauer zu tun. So kommt es, dass ich Unterlagen von früheren Lebensinhalten auch nach 15 Jahren noch mit mir rumschleppe.
    Ich möchte lernen mir selber zu genügen. Schön gibt es dieses Forum mit den verschiedenen anregenden aufwühlenden Inhalten, danke.

  6. Mit 60 merkte ich, meinen Entscheiden fehlte der gewohnte Risikoanteil, schlicht es wurde langweilig. Haus gebaut, Baum gepflanzt, Sohn gezeugt, Buch geschrieben, es durfte nochmal spannend werden. Neues Ziel, neue Sprache, neue Kultur. Über 15 Jahre führten wir im Burgund ein Kleinunternehmen. Freiwillig bleiben mir noch die Führungen in Deutsch im mittelalterlichen Städtchen, aber mein älterer «französischer Kollege» hat eben damit aufgehört, das wird wohl auch meine letzte Saison gewesen sein. Aber ich suche nach neuen Aufgaben.

    Lieber Peter Steiger, es gilt:
    – auch nach dem Beruf braucht es einen Beruf, notfalls Livemanager mit Wochenplan
    – man kann Sie überall brauchen, nicht mehr als Präsident, aber vielleicht als Archivar
    – 3 Beispiele: Marc jätet verlassene Gräber, Guy öffnet und schliesst täglich die Kirche, Alain stellt den gehbehinderten Alten die Zeitung zu, rechnet mit ihnen ab und berichtet das Neueste aus dem Dorf.
    – Einfache Dinge schaffen Nähe, die wir gerade im Alter brauchen.
    – Das Vergangene verdrängen bis wir’s endgültig vergessen. «Geniesse den Tag»
    – Und ehrlich, Nachrufe sind meistens vor allem grosszügig gemeint und unvollständig.

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