StartseiteMagazinKulturEine palästinensische Familie

Eine palästinensische Familie

Die Regisseurin und Schauspielerin Cherien Dabis erzählt im Film «All That’s Left of You» die Geschichte ihrer Familie über drei Generationen, zeigt das Leben und Überleben in friedlichen und kriegerischen Zeiten und schuf damit ein eindrückliches Gleichnis der Menschlichkeit.                       

Lehrer Salim Hammad lebt mit seiner Familie in der von Israel besetzten Westbank. Sein Vater Sharif zeigt leichte Züge von Demenz, die Geschichte Palästinas aber kennt er noch genau. Salims Frau Hanan kümmert sich um die Kinder, von denen der ältere Noor dem Grossvater lieber zuhört, als dem Vater gehorcht. 

Die Familiengeschichte, welche die Exil-Palästinenserin Dabis in ihrem zutiefst bewegenden und informativen Spielfilm «All That’s Left of You» vorträgt, hat nichts mit den jüngsten Gräueln im Nahen Osten zu tun, führt uns jedoch vor Augen, wie die Schlagzeilen von heute tiefe Wurzeln haben und Lösungen guten Willen verlangen. 

AllThatsLeftOfYou.11.Malik und Noor 

Wenn wir unser Leben erzählen, machen wir oft Sprünge in die Vergangenheit und wieder in die Zukunft. Wenn die palästinensische Drehbuchautorin, Regisseurin und Schauspielerin von ihrer Familie erzählt, macht der Film immer wieder Rückblenden, manchmal überraschende, die Nachfragen verlangt. 

2009 drehte Cherien Dabis «Amreeka», ihren ersten Spielfilm über Palästina. 

AllThatsLeftOfYou.2.Salim mit Sohn 

Vier Statements der Regisseurin 

Meine erste Erinnerung an eine Reise nach Palästina geht zurück auf einen Besuch in unserem Heimatdorf, als ich acht Jahre alt war. Bewaffnete israelische Soldaten hielten meine Familie 12 Stunden lang an der Grenze fest. Sie durchsuchten den Inhalt unserer Koffer. Mein Vater stellte sich ihnen entgegen, als sie anordneten, uns alle einer Leibesvisitation zu unterziehen, einschliesslich meiner kleinen Schwestern im Alter von drei und einem Jahr. Die Soldaten schrien ihn an. Ich hatte grosse Angst, dass sie ihn töten würden. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich nach dieser Tortur durch Jerusalem fuhr, den Kopf aus dem Fenster streckte und dachte: Das ist es, was es bedeutet, Palästinenser:in zu sein. Die Menschen mögen uns nicht, und deshalb behandeln sie uns schlecht. 

AllThatsLeftOfYou.5.Nakba, 1948, die Vertreibung, die «Katastrophe» 

Mein Leben ist voll von Geschichten über den Schmerz und den Konflikt, den ich in Palästina gesehen und durchlebt habe. Und doch verblassen meine Erfahrungen als palästinensische Amerikanerin, die grösstenteils in der Diaspora lebt, im Vergleich zu denen jener, die in Palästina leben, sowie zu den Generationen, die vor mir kamen. Mein Vater ist ein palästinensischer Flüchtling, der den grössten Teil seines Lebens im Exil verbracht hat. Ich bin mit seinen Geschichten aufgewachsen und mit denen meiner Familie und meiner Gemeinschaft, die immer noch dort leben, Geschichten von 1948 und 1967 und den Intifadas. Ihre Erfahrungen wurden so tiefgreifend und bewegend weitergegeben, dass sie manchmal meine eigenen Erinnerungen zu sein scheinen. 

AllThatsLeftOfYou.3.Erste Intifada, ab 1987, der «Krieg der Steine» 

«Postmemory» wird definiert als die Erfahrung, dass die eigene Alltagsrealität von der Erinnerung an eine viel bedeutendere Vergangenheit überschattet wird, die die eigenen Eltern durchlebt haben. Die Betonung liegt jedoch auf den Ereignissen, die bereits vergangen sind. Was geschieht, wenn die Vergangenheit noch nicht vergangen ist? Wie heilt man ein Trauma, das noch nicht überwunden ist? Das unerkannt geblieben ist? Das aus dem Bewusstsein der Welt getilgt wird? Über diese Fragen habe ich einen Grossteil meines Erwachsenenlebens nachgedacht. Nun wollte ich mich der Erforschung der Antworten widmen. Ich wollte versuchen, mir und meiner Gemeinschaft durch das Erzählen von Geschichten zu helfen. Ich wollte das Mitgefühl der Welt für Menschen, die so viel durchgemacht haben, stärken. Also begann ich darüber nachzudenken, wie ich unsere Entstehungsgeschichte und die Geschichte des Generationen übergreifenden Traumas von 1948 bis heute erzählen könnte. 

AllThatsLeftOfYou.7.Hanan im Flüchtlingslager in Nablus 

«All That’s Left of You» ist nicht politisch. Der Film ist zutiefst persönlich und zutiefst intim. Ein historisches Epos, das die Geschichte des Landes mit den Augen einer Familie und drei Generationen des Kampfes erzählt. Ein Familienporträt, das die Beziehung zwischen Grossvater, Vater und Sohn und das Erbe des Traumas, das an jeden von ihnen weitergegeben wurde, untersucht. Es ist ein Drama mit durchdringenden Momenten der Freude, der Liebe und des Humors, die dafür sorgen, dass es nicht zu anstrengend wird. Vor allem aber ist es eine Gelegenheit, Veränderungen anzustossen, indem es ein Gespräch über die Notwendigkeit der Anerkennung unseres Leidens in Gang setzt, denn dort beginnt die Heilung. Es mag wie ein hochgestecktes Ziel erscheinen, aber ich glaube wirklich an die Kraft des Kinos, die Dinge neu zu betrachten, Menschen zu inspirieren und zu heilen. 

AllThatsLeftOfYou.9.Salim und Hanan mit den Kindern 

An meine Freude in Palästina 

«All That’s Left of You» hat mich im Innersten berührt und aufgewühlt, ein Stück meines früheren Lebens wieder aufleben lassen. Ich glaube, Palästina und Israel zu kennen: von verschiedenen Reisen, meiner Arbeit für das Kinderspital in Bethlehem, Einsätzen beim gemeinsamen Olivenpflücken sowie aus Büchern und Filmen , vor allem aber von tiefen Freundschaften mit Menschen in diesem Land. Alles, was du, liebe Cherien, zeigst, ist für mich glaubhaft und nachvollziehbar, im Grunde von Hunderten von Mails und andern Nachrichten belegt. Das macht mich traurig, wütend, verzweifelt und in feinen Anspielungen auch hoffend und glücklich. 

Ich bin dankbar, dass du mit «All Tats Left of You» einem breiten Publikum auch bei uns aus deinem Leben erzählst und uns erleben lässt, wie die Menschen in Palästina leben, und dass die Probleme in diesem unheiligen Heiligen Land schon viel länger andauern, es sie nicht erst seit dem 7. Oktober 2023 gibt. 

Du hast deine Arbeit, zusammen mit deinem Team, ausgezeichnet, mit bewegender Anteilnahme und grossem cineastischem Können gemeistert: mit Christopher Aoun an der Kamera, Tina Baz für die Montage, Amine Bouhafa mit der Musik und die Schauspielerinnen und Schauspieler in den verschiedenen Lebensaltern und schliesslich mit deinem Drehbuch und deiner Regie. Ich hoffe, dass der Film einige der Auszeichnungen erhalten wird, für die er bereits angemeldet ist. Ich wünsche dem Film den Oscar. Shukran. Danke. 

Gegen Schluss der Geschichte rät ein Imam Salim und Hanan bei ihrem schwierigen Entscheid über die Freigabe der Organe des toten Noor, dass Menschlichkeit die Form des Widerstandes ist. Ein Gedanke, der über diesen Akt hinaus über dem ganzen Film schwebt. 

AllThatsLeftOfYou.4.Wer bekommt das Herz des getöteten Noor? 

Ein Gedicht, das die Erzählung zum Gleichnis macht 

«Ich bin das Meer.
In meinen Tiefen schlummern alle Schätze.
Wurden die Taucher nach meinen Perlen gefragt?»
 

Das Gedicht gibt es mehrmals im Film: Am Anfang versucht der Vater seinem Sohn diesen Text beizubringen, am Schluss memoriert das alte Paar am Meer vor Jaffa das Gedicht. Es weist über deine Familiengeschichte hinaus, gibt ihr die Bedeutung eines allgemeingültigen Gleichnisses.

Titelbild: Drei Generationen

Regie: Cherien Dabis, Produktion: 2025, Länge: 145 min, Verleih: trigon-film

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