Ángela und Hector sind glücklich verheiratet. Sie ist gehörlos, kann aber von den Lippen lesen, er hat die Gebärdensprache gelernt, um das Leben mit ihr gut zu gestalten. Doch Ángelas Schwangerschaft könnte alles verändern. Die Spanierin Eva Libertad hat mit «Sorda» ein Dokument, ein Gleichnis und ein Plädoyer geschaffen. Ab 6. November im Kino.
«Sorda» ist der Langspielfilm nach dem gleichnamigen, vielfach prämierten Kurzfilm aus dem Jahre 2022 von Eva Libertad: «Der Film ist aus dem Wunsch entstanden, mit den Zuschauern unsere Verbindung mit Taubheit zu teilen. Denn die Hauptdarstellerin Miriam Garlo und ich sind Schwestern und haben immer unsere Welt geteilt, die eine in einer Hör-Identität, die andere die einer Taub-Identität. Vor ein paar Jahren begann meine Schwester darüber nachzudenken, Mutter zu werden. Wir haben viel über dieses Thema gesprochen, und sie hat ihre Sorgen, Ängste und Erwartungen über Mutterschaft in einer Welt, die von und für die Anhörung gemacht wird, mit mir geteilt. Diese Gespräche wurden zum dramatischen Kern des Drehbuches: Die Figur der Ángela ist bereit für die Welt, aber die Gesellschaft ist nicht bereit für ihre Taubheit.» 2024 übernehmen Miriam Garlo als Ángela und Alvaro Cervantes als Héctor ihre Rollen.
Die Eltern mit Ona
Das Familienleben
Bald schon erwarten die gehörlose Ángela und ihr hörender Lebenspartner Hector ein Kind. Sie freuen sich über die Schwangerschaft, wissen aber noch nicht, ob das Baby gehörlos oder hörend zur Welt kommen wird. Auch wenn sie behaupten, auf beide Fälle vorbereitet zu sein, melden sich zunehmend unterschwellige Sorgen. Nach der körperlich und emotional schwierigen Geburt müssen sie noch einige Monate warten, bis sie wissen, dass ihre Tochter Uma hören kann.
Diese Phase ist für beide nicht leicht. Héctor fällt es schwer, das ganze Ausmass der Herausforderungen zu begreifen, mit denen Ángela sich konfrontiert sieht. Ángela muss sich der Tatsache stellen, dass ihre Tochter die Welt anders erleben wird als sie selbst. Sie ringt mit ihrer Identität und um ihren Platz in einer Gesellschaft, in der sie nicht vollständig verstanden und akzeptiert wird. Die beiden werden von der Regisseurin nicht als perfektes, sondern als realistisches und glaubhaftes Paar vorgestellt, weshalb es wohl auch beim Publikum gut ankommen dürfte.
In der Gemeinschaft der Taubstummen
Die Inszenierung des Inhalts und des Gehalts
«Um diese Geschichte und den Handlungsbogen von Ángela aufzubauen, wollte ich einen Charakter schaffen, der unabhängig und mit seinem Leben zufrieden ist. Ich wollte keinen komplizierten Charakter», erklärt die Regisseurin, «ich wollte zeigen, dass die Beziehung zwischen einer hörenden und einer nicht hörenden Person auch die Fähigkeit erzeugen kann, sich umeinander zu kümmern.» Da es neben der Taubheit die Stummheit, die Blindheit und weitere Eigenschaft des «Mängelwesens Mensch» (Arnold Gehlen) gibt, wächst «Sorda» über sich hinaus, indem es exemplarisch auch für andere ist. In diesem mit Empathie und Meisterschaft inszenierten Drama führen die in Ton und Bild dargestellten Fragen der Taubheit nach und nach zu den generellen Fragen nach der Identität und dem Standort in der Welt.
Neben den didaktisch klugen Veränderungen der Tonspur, lebt fast jede Szene von Ober- und Untertönen, die wahrzunehmen und zu befragen sind, die den Film reich und wertvoll machen.
Dass neben dem Drehbuch und der Inszenierung von Eva Libertad die Authentizität der Darsteller:innen, vorab des Paares Ángela und Hector, auch die Kamera von Gina Ferrer Garcia und die Musik von Aranzazu Calleja mit ihren audiovisuellen Beiträgen zur Schönheit dieser Geschichte beitragen, ist offensichtlich.
Die Töpferin Ángela
Aus Gehörlosenperspektive
Die Filmemacherin konfrontiert das Publikum mit wissenden und einfühlsamen komplexen Situationen, ohne diese je zu dramatisieren. Sie zeigt Aufgaben, die das Leben von Ángela und Hector herausfordern und bestimmen, doch bereits andeuten, dass diese auch zu Gaben werden können. Menschen, die gehörlos sind, erleben die Welt fast ausschliesslich visuell und nur in geringem Masse über Geräusche, Töne und Laute, bleiben aber mit ihren persönlichen Sorgen allein, was hier in verschiedenen Nuancen zum Tragen kommt.
Zu Beginn sehen wir, wie gut Ángela und Héctor harmonisieren. Ihre Welt hat sich mit der Mutterrolle verändert, komplizierter gemacht. Plötzlich wird die Kluft zwischen ihr und der hörenden Umwelt spürbar. Alte Verletzungen brechen auf. Sie fühlt sich erneut allein, ausgegrenzt, weniger wertgeschätzt.
«Sorda» ist vor allem aus Ángelas Perspektive erzählt. So kann das Publikum sich in sie hineinversetzen. Hilflosigkeit und Frust spielt die selbst gehörlose Schauspielerin genau so überzeugend wie die Momente von Mut und Entschlossenheit. Die anfängliche Verbundenheit des Paares zeigen Garlo und Cervantes in alltäglichen und besonderen Situationen. ‒ Hier empfiehlt sich das Probehandeln, was die Medienpädagogik postuliert: Angesichts solcher Szenen können wir versuchen, probehandelnd die Lösungen der Konflikte anteilnehmend zu erarbeiten, um für ähnliche Situationen im eigenen Leben vorbereitet zu sein.
So kann Ángela von ihrem Partner nicht verlangen, dass er mit dem Kind nicht auf seine Weise spricht. Der Film wirbt auch um Verständnis für Hector. ‒ Höchst wertvoll, da wohl der grosse Teil des Publikums in der Rolle eines Hectors den Film betrachtet und auf sich überträgt. Auch hier ist Probehandeln angesagt. Vor Stolz platzt er fast, als das erste Wort der Kleinen «agua» ist. Doch er traut sich kaum, es seiner Frau zu erzählen; ihre Reaktion fällt dementsprechend auch lauwarm aus. Sie fühlt, dass die Erfahrung ihres Kindes sich allmählich von ihrer unterscheidet und bangt um die zukünftige Verbundenheit mit ihm.
Es geht in «Sorda» also um ein umfassendes Verständnis des Menschen und seiner Kommunikation. Und so sind wir mit Martin Buber wohl gut beraten, der uns mit seinem Buch «Ich und Du» das Beziehungsgeflecht im Film, leicht angepasst, zu deuten hilft: «Die Grundworte sind nicht Einzelworte, sondern Wortpaare. Das eine Grundwort ist das Wortpaar Ich-Du, das andere Ich-Es. Somit ist auch das Ich des Menschen zwiefältig. Das Grundwort Ich-Es gehört der Erfahrung. Das Grundwort Ich-Du stiftet die Welt der Beziehung.»
Wie weiter?
Taubheit als Norm
«Sorda» ist ein Dokument der taubstummen Schwester der Regisseurin und unzähliger anderer tauben Menschen.
«Sorda» ist ein Gleichnis für unseren Umgang mit tauben, blinden, stummen und weiteren Menschen mit Behinderungen.
«Sorda» ist ein Plädoyer für alternative Formen der Kommunikation, die alle betreffen. Nach dem Film wird uns dies vielleicht dämmern, uns selbst und unserer Gesellschaft in der Kommunikation in der Norm existenzieller Taubheit.
Titelbild: Das Paar Ángela und Hector

