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Die Corona-Pandemie fordert die Demokratie heraus

Eine Schwäche der Demokratie liegt darin, dass Interessenverbände mehr Macht haben als jene Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger, die nach wie vor recht konsequente Corona-Massnahmen befürwortet, findet der Publizist Roger de Weck. Ein Gespräch.

Seniorweb: Herr de Weck, die Pandemie diktiert seit über einem Jahr unseren Alltag. Immer mehr Menschen verlieren die Geduld und kritisieren das Corona-Regime des Bundesrats. Haben Sie Verständnis für die wachsende Ungeduld?

Roger de Weck: Der Mensch – das ungeduldige Wesen! Und wir in Westeuropa sind lang verwöhnt worden: Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg greifen äussere Umstände in unser aller Leben ein. Die meisten tragen das mit Fassung. Andere sind – zu Recht – in existentieller Sorge. Und dann gibt’s natürlich ein paar Larmoyante. Manche Kritiker kritisieren den Bundesrat, da sich eine Pandemie nicht kritisieren lässt. Aber die eigentlichen Schwierigkeiten bereitet die Pandemie, während der Bundesrat teils erfolgreich und teils glücklos damit umzugehen versucht.

Ist unsere auf Bedachtheit und Ausgewogenheit ausgelegte direkte Demokratie überhaupt pandemietauglich?

Die Schwäche unserer Demokratie liegt darin, dass die Interessenverbände mehr Macht haben als jene Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger, die nach wie vor recht konsequente Massnahmen befürwortet.

«Regierungen, die konsequent handeln, finden bis heute viel Unterstützung im Volk.» Bild: Bundeshaus Bern. Foto: Floffy.

Die demokratische Mitsprache leidet. In einer Notlage funktioniert die Debatte anders als in normalen Zeiten. Ein Beispiel: Viele Gemeindeversammlungen werden seit Monaten als Gemeindeabstimmungen durchgeführt. Bietet die Pandemie eine Chance für die Beschleunigung der Digitalisierung?

Auch nach der Pandemie werden viele Sitzungen digital stattfinden, wir werden etwas weniger unterwegs sein. In kleinen Gemeinden bleiben Versammlungen wertvoll… sofern sie besucht werden. Sonst sind Abstimmungen repräsentativer.

E-Voting und E-ID stehen massiv im Gegenwind. Lassen sich demokratische Rechte verlässlich digitalisieren? Teilen Sie die wachsende Skepsis gegenüber den neuen digitalen Instrumenten?

Dahinter stehen vier Schlüsselfragen: Sind die Instrumente sicherer oder aber anfälliger als die alten, «analogen» Verfahren? Wer genau hat welche Kontrolle über diese Instrumente? Herrscht uneingeschränkte Transparenz? Und werden die Daten nie zweckentfremdet? Die Diskussion fängt erst an. Und braucht Zeit. Es geht um die Verlässlichkeit von Abstimmungen und Wahlen – da kann ein veraltetes Wahlsystem (wie in den USA) genauso das Vertrauen erschüttern wie ein unausgereiftes.

Ist der Eindruck falsch, dass Populisten und reaktionäre Kräfte von der Krise profitieren, indem sie sich mit einfachen Lösungsvorschlägen Gehör verschaffen?

Im Gegenteil, in der westlichen Welt sind die meisten Populisten jetzt erstmals in der Defensive: weil sie die Pandemie verleugnet oder verniedlicht haben wie Trump, weil sie in der Krise versagt haben wie Boris Johnson – weil man in harten Zeiten pragmatische Lösungen statt Sprüche braucht. Dafür haben gerade Schweizerinnen und Schweizer ein besonderes Sensorium.

Wie kann der Staat, dessen Ziel es ist, eine Ausweitung der Pandemie zu verhindern, den um sich greifenden populistischen Strömungen entgegenwirken?

Am stärksten überzeugt eine Politik, die mittelfristig Ergebnisse bringt, statt kurzfristig den Wünschen der Interessengruppen oder den medialen Stimmungen zu folgen.

Welche Bedeutung kommt aktuell den Medien zu?

Allerbeste Arbeit leisten die Datenjournalisten namentlich von SRF, Tamedia und NZZ, Chapeau! Unglaubwürdig machen sich Medien, die zu jedem Zwischenstand der wissenschaftlichen Erkenntnisse eine definitive Schlagzeile machen. Oder die im Sommer 2020 die Gefahr einer zweiten Welle kleinredeten – und dann überspielten, dass sie falsch gelegen waren.

Ihr neustes Buch ist eine Ermutigung für die liberale Demokratie. Sehen Sie in den demokratischen Institutionen und Prozessen trotzdem Korrekturbedarf?

Wir müssen sie auf die Höhe des ökologischen und digitalen Zeitalters bringen. Die Natur als das schwächste Glied der Politik sollte institutionell gestärkt werden: Im Buch mache ich zwölf Vorschläge für eine gestaltungskräftigere ökosoziale Demokratie. Ich bin optimistisch. Zwar bleiben die Ungleichgewichte: zwischen Natur und Mensch, Arm und Reich, Frau und Mann. Aber die Corona-Zeit hat die Umweltfrage nicht verdrängt, sondern vergegenwärtigt. Auch die Gefahr, die von ausufernder Ungleichheit in der Gesellschaft ausgeht, wird inzwischen breit diskutiert. Und während der Krise besann sich die herrschende Minderheit der Männer – wie stets in der Not – auf die Schlüsselrolle der Frauen.

Braucht es beispielsweise eine Reorganisation des Bundesrats und der Departemente, eine Staatsleitungsreform?

Das war schon vor der Pandemie klar.

«Der Grundsatz sollte lauten: Falls sich in Krisenzeiten die Kantone nicht sofort verständigen, geht die Kompetenz an den Bund.» Bild: Kantonswappen. Foto: zvg.

Die Pandemie ist auch eine riesige Herausforderung für den Föderalismus. Man hat den Eindruck, dass zentral verhängte Massnahmen besser verstanden und akzeptiert werden als kantonale Anordnungen. Müssen wir den Föderalismus neu definieren?

In einer Pandemie so zu tun, als könnten in dem städtischen Grossraum, der sich vom Aargau über Zürich bis nach Zug erstreckt, unterschiedliche Regeln gelten, ist Realitätsverweigerung. Der Grundsatz sollte lauten: Falls sich in Krisenzeiten die Kantone nicht sofort verständigen, geht die Kompetenz an den Bund.

Kämen wir als Zentralstaat (wie Frankreich) besser durch die Pandemie denn als föderaler Flickenteppich?

Seit Paracelsus wissen wir: Auf die Dosis kommt es an. Eine Überdosis Föderalismus ist giftig – doch darüber wollen wir nicht auf der Stelle zum Zentralstaat mutieren.

Unternehmen gehen Konkurs, Menschen werden arbeitslos. Je länger die Einschränkungen aufrechterhalten werden, desto deutlicher wird die soziale Not. Wie stark soll der Staat mit Geld helfen?

Er sollte massiv helfen, sonst wird es Verwerfungen geben. Doch ein Teil der Bürgerlichen will bei den Hilfen an Unternehmen schmürzeln – was am Schluss mehr Geld kostet. Wer tiefe Steuern zum Staatszweck erhebt, der beteuert dann halt wie unser Finanzminister, das reichste Land der Welt könne sich zusätzliche Schulden nicht leisten.

Wie dramatisch ist nach Ihrer Einschätzung der von Umfragen europaweit ermittelte Vertrauensverlust in Regierungen?

Regierungen, die konsequent handeln, finden bis heute viel Unterstützung im Volk. Einen drastischen bzw. allgemeinen Vertrauensverlust sehe ich nicht.

Was können wir für unsere demokratischen Prozesse in der Schweiz aus der aktuellen Pandemie lernen?

Eine demokratische Lehre lässt sich jetzt schon ziehen: Wenn Regierungen – etwa der Zürcher Regierungsrat – versagen, sollten wir sie bei nächster Gelegenheit abwählen.

Titelbild: Der Publizist Roger de Weck. Foto: Danielle Liniger


Roger de Wecks neues Buch «Die Schwäche der Demokraten schafft Übersicht und Zuversicht. Für sein Werk wurde er kürzlich mit dem Bruno Kreisky Preis ausgezeichnet:

Roger de Weck: «Die Kraft der Demokratie – Eine Antwort auf die autoritären Reaktionäre». Suhrkamp Verlag Berlin 2020 ISBN 978-3-518-42931-0

Link:
24.03.2020 – Judith Stamm:  Erneuerung der Demokratie

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5 Kommentare

  1. Ach dieser De Weck, der 7malkluge Gescheitschwätzer !! Demokratie wäre, wenn einerseits das Volk über die Massnahmen abstimmen könnte, und andererseits die Ängstlichen, die nicht Verhältnismässigkeiten einbeziehen können, kritisch Analysierende nicht als Populisten, Rechte, Leugner, Verharmloser beschimpften!!
    Da noch niemand mit den Viren gesprochen hat, beruht alles – Befürworter wie Skeptiker – auf Thesen und Antithesen, voila.
    Und! bis jetzt haben ja die sog. Interessenverbände nichts bewirken können, somit ist sein (de Weck) Rundumschlag unangebracht!

  2. Vielen Dank für dieses Interview mit Roger de Weck. Nur wenn solche Persönlichkeiten zu Wort kommen, können wir die Populisten und Plaudertaschen aushalten.

  3. In dieser Situation hat der Föderalismus versagt, nicht zuletzt deshalb, weil praktisch alle kantonregierungen bürgerlich regiert werden. Das zeigt sich beispielhaft daran, dass die kantone nicht in der Lage sind, die Gelder zu verteilen, die der br zur Verfügung stellt. Viele Betriebe und selbständige sind deswegen in ihrer Existenz bedroht. Eine Schande für die reiche Schweiz. Deshalb, und dringend: bundesrat übernehmen sie!

  4. Roger de Weck behauptet zweierlei, nämlich dass die Interessenverbände mehr Macht hätten, als die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger und dass in Krisenzeiten die Kantone rasch reagieren müssten, sonst hätte der Bund zu übernehmen.
    Abgesehen davon, dass auch die Interessenverbände aus Bürgerinnen und Bürgern bestehen, ist auch in der aktuellen Corona Pandemie das von den Bürgerinnen und Bürgern gewählte eidg. Parlament z.B. für das Pandemiegesetz zuständig, auf der die aktuellen Massnahmen beruhen. Und glücklicherweise funktioniert unser Föderalismus und gibt es entsprechend unterschiedliche Massnahmen, da eben nicht in jeder Region unseres Landes dieselben Pandemiezustände herrschen. Im Übrigen kennen die Kantone sog. Konferenzen (z.B. Gesundheits- oder Volkswirtschaftsdirektoren) oder das Haus der Kantone, in denen die Kantone gemeinsame Strategien entwickeln könnten, so dass der Bundesrat nicht die gesamte Last der Pandemiebekämpfung zu übernehmen hätte oder müsste. Doch solange an der Spitze dieser Gremien derart schwache Persönlichkeiten sitzen, versucht eben jeder Kanton allein selig zu werden, bis andere, entscheidungsschwache Kantone wieder nach dem Bund rufen – eigentlich eine paradoxe Situation.

  5. Wer nicht unter den sozialen und kulturellen Einschränkungen leidet, hat wohl auch vor der Pandemie kein soziales Bedürfnis mit seinem Umfeld gehabt. Für mich ist es nahezu unerträglich, dass die Menschen Abstand voneinander halten, ihr Gesicht verbergen und sich nicht um ihre alten und kranken Angehörigen wie gewohnt kümmern können. Meine Mutter starb glücklicherweise vor der Pandemie und mein Sohn wird inzwischen ambulant behandelt.

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