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Mao und das Selbstbewusstsein

Was die Geschichte des chinesischen Reichs mit dem aktuellen Streben Chinas nach Hegemonie in allen Bereichen zu tun hat, ist für interessierte Reisende mit offenen Augen verstehbar. Serie in 9 Teilen, Folge 2

 

Je mehr ich mich mit der Geschichte, Kultur und Politik dieses Riesenreichs befasst habe, desto mehr hatte ich vor Ort das Gefühl, vieles, was uns erstaunt oder wir uns nicht erklären können, sei nur aus der historischen Entwicklung heraus zu verstehen. Darüber äusserten sich andere, die einen tieferen Einblick in die Strukturen hatten als ich während einer bloss mehrwöchigen Reise.

Arbeitsweg am frühen Morgen mit Smog und Stau

In unserer Gruppe tauchte mehrfach die Frage auf, warum die Verehrung für den Staatsgründer Mao Tse Dong ungebrochen scheint, obschon während seiner Regierungszeit – durch die historische Forschung gesichert – rund 140 Millionen Menschen verhungert oder umgebracht worden waren. Die in ihren Folgen verbrecherischen Befehle Maos zum Grossen Sprung nach vorn (1958) und zur Grossen proletarischen Kulturrevolution (1966-1976) kosteten mehr Opfer als jene von Hitler und Stalin zusammengenommen. Dennoch stehen jeden Tag Zehntausende von Menschen stundenlang in der Schlange auf dem Tienanmen-Platz, um am einbalsamierten Roten Kaiser im Schneewittchensarg vorbei defilierend einen Blick auf „unseren lieben Mao“, so eine der Reiseleiterinnen, zu werfen.

Überall ist Mao präsent

Die Gründe, warum Mao nach wie vor verehrt wird, sind komplex. Nur soviel, verkürzt und vereinfacht: Mit der Staatsgründung 1949 hat Mao das Land aus der in den Augen der Chinesen „unwürdigen“ Abhängigkeit von den Kolonialmächten geführt. Nach zweihundert Jahren Krieg, mit schlimmsten Demütigungen durch England und Frankreich, nach den in der Geschichte der Menschheit vermutlich grausamsten je begangenen Massakern durch die japanischen Besatzer 1937 in Nanjing, fand China 1949 zurück zu einem souveränen Staat, „der sich nicht mehr vor anderen Nationen beugen muss“, so ein chinesischer Historiker.

Zentrum der Welt

Maos Politik verlangte der Bevölkerung zwar unsägliche Entbehrungen und Opfer ab, aber mit der Zündung der ersten chinesischen Atombombe 1964 markierte das kommunistische China seinen Eintritt in die Riege der Grossmächte und gab den Menschen jenes Gefühl zurück, das sie vor der Kolonialisierung durch westliche Mächte während 2’000 Jahren beherrscht hatte: Wir sind das Zentrum der Welt, das Reich der Mitte und unsere Kultur ist allen anderen Kulturen überlegen. Dieses wiedergefundene Selbstbewusstsein mag einer der Gründe sein, warum Maos Wirken „als grosser Dichter, Philosoph und Staatenlenker“, wie es einer der Reiseleiter in dieser Reihenfolge! formulierte, positiv gesehen wird.

Das grossartigste Olympiastadion der Welt, erbaut von Architekten der Weltspitze, Herzog & de Meuron

Obschon mich die sportlichen Erfolge damals in Peking nicht im Geringsten interessierten, waren für mich die olympischen Spiele im Sommer 2008 ein Schlüssel zum Verständnis dafür, wie sich China der Welt präsentieren möchte: In Grösse und Perfektion einfach unübertreffbar. Und auf diesem Weg ist China weiter gegangen und wird in Kürze was wirtschaftliche und vielleicht auch militärische Macht betrifft die Nummer eins auf der Welt.

Zentralistische Strukturen

Chinas wirtschaftliche Stärke liegt nach Aussagen von Experten in den diktatorischen und zentralistischen Strukturen, die effizienter als eine kapitalistisch-demokratische organisierte Wirtschaft sind. Es gibt über wirtschaftliche Entscheide der Partei keine Diskussionen, was natürlich auch bedeutet, dass die mediale Öffentliche Meinung kontrolliert, beschränkt und unterdrückt wird.

Der Fortschritt zeigt sich auch am öffentlichen Verkehr: U-Bahn in Peking

Chinas Finanzmacht ist gigantisch: In den Tresoren der Bank of China lagern mehr Dollar, als in den USA im Umlauf sind. Die Devisenreserven Chinas sind so gross, dass der Staat die Goldreserven sämtlicher Nationalbanken der Welt aufkaufen könnte. Ende März 2013 belaufen sich die Devisenreserven der Bank of China auf 3’400 Milliarden Dollar. Allein in den ersten drei Monaten dieses Jahrs nahm Chinas Bestand an fremden Währungen um weitere 100’000’000’000 Dollar (= 100 Milliarden) zu.

Maos Bild am Eingang zur Verbotenen Stadt, dem Machtzentrum von einst

Das Selbstbewusstsein und der Stolz auf die eigenen Leistungen ist, selbst abgesehen von den Entwicklungen hin zu einer neuen Supermacht, durchaus nicht unberechtigt. Denn tatsächlich war das Reich der Mitte während über 1’500 Jahren, bis zum Zeitalter der Entdeckungen Ende des 15. Jahrhunderts, allen anderen Kulturen auf der Welt klar überlegen. Sowohl in technischer, kultureller als auch in staatspolitischer Hinsicht. Jedes Schulkind weiss, dass die Chinesen das Schiesspulver und die beweglichen Drucklettern erfunden haben. Weniger bekannt sind die Erfindung technischer Verfahren wie die der Seiden- oder Porzellanherstellung. Die Härtung von Eisen zu Stahl praktizierten die Chinesen schon vor tausend Jahren, ähnliche Prozesse wurden von deutschen und amerikanischen Ingenieuren erst im 20. Jahrhundert entwickelt.

Hochkultur

Auch in der Kunst schufen zur Zeit des europäischen Mittelalters chinesische Künstler Werke, die unseren damals entstanden Kunstwerken ästhetisch und technologisch überlegen waren. Es mag in unseren Ohren etwas überheblich tönen, wenn ein chinesischer Intellektueller kürzlich sagte: „China war eine Hochkultur, als ihr in Europa noch auf den Bäumen hocktet“. Aber die Aussage bringt das wiedererwachte Bewusstsein für die von den Chinesen empfundene Überlegenheit ihrer Kultur auf den Punkt.

Alle Fotos © Arnold Fröhlich

In der Folge 3 (9.8. 2013) geht es um Linientreue und um den Wohnungsbau

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