StartseiteMagazinKolumnenWenn alle ihre Professionalität verlieren

Wenn alle ihre Professionalität verlieren

Da greift ein sonst agiler und auch erfolgreicher Chefredaktor mit Namen Patrik Müller zu einem beliebten und oft praktizierten Trick in der Branche. Er kontaktiert den in seiner Sonntagszeitung an den Pranger gestellten Geri Müller so spät wie nur möglich, erst am Samstagabend, in der stillen Hoffnung, dass der gar nicht mehr online oder über sein Handy erreichbar ist, um ihm mitteilen zu können, dass er die Geschichte um die Nacktfotos trotzdem bringt, obwohl er ihm versichert hatte, damit zu warten, bis alles geklärt sei und Geri Müller persönlich dazu Stellung nehmen könne. Der Chefredaktor atmet auf, Geri Müller reagiert nicht, wie erhofft; er hat sein Handy ausgeschaltet.

Die Geschichte ist mit dem Titel „ Nackt-Selfies aus dem Stadthaus“ gesetzt, die Rotationsmaschinen können starten, der Vertrieb wird in der Nacht auf den Sonntag die Zeitung mit der Schlagzeile ausliefern, an die Kioske, an die Abonnenten der „Schweiz am Sonntag“.

Geri Müller erwacht in der Nacht, konsultiert wohl routinehaft als Politiker sein Handy: Eine noch bis zu diesem Zeitpunkt unter Kontrolle gehaltene Geschichte ist ohne sein Wissen, ohne dass er dazu Stellung nehmen konnte, lanciert. Der Trick des Chefredaktors hat, wie schon oft in der Branche, funktioniert. Patrik Müller setzt sich als Chefredaktor einen Kranz auf; er hat die Schweiz seit einer Woche in Aufregung versetzt. Für Geri Müller bricht in diesem Moment eine Welt zusammen; seine dunkle Seite ist entlarvt.

Ein sonst besonnener älterer Mann, promovierter Jurist und langjähriger Chefredaktor beim Tagesanzeiger, beim Schweizer Fernsehen mit dem Namen Peter Studer, springt unvermittelt dem Chefredaktor bei, lässt sich interviewen, findet, ohne die wahren Hintergründe zu kennen, noch sie recherchiert zu haben, dass der agile, sich selbst bekränzte Chefredaktor richtig gehandelt hat. Sein Standpunkt war glasklar: Es bestand ein öffentliches Interesse. Basta. Wo war sein sonst so ausgeprägtes Berufsethos?

Da bekommt ein PR-Agenturbesitzer mit den Namen Sacha Wigdorovits Informationen von einer Frau, gar Nacktfotos über seinen und von seinem Intimfeind Geri Müller und wird weit aktiver, als ihm jetzt lieb sein kann. Wigdorovits und Müller lagen sich politisch schon oft in den Haaren. Wigdorovits ist Promotor der Stiftung Audiatur. Die Stiftung setzt sich für Israel ein. Geri Müller ist ein Freund der Palästinenser. Wigdorovits lavierte sich in der letzten Woche durch die Affäre. Zuerst kannte der die Frau nicht anders als wir Zeitungsleser. Scheibchen für Scheibchen kommt nun die Wahrheit als Tageslicht; er war wohl eine entscheidende Figur in der Affäre.

Da kommt der Präsident der jüdischen Kultusgemeinde der Stadt Baden mit dem Namen Josef Bollag ins Spiel. Er, wie Wigdorovits, ein Intimfeind von Geri Müller. Bollag liess über einen Privatdetektiv, wie die Sonntags-Zeitung berichtet, Geri Müller ausspionieren. Geri Müller sollte als Stadtammann-Kandidat als nicht wählbar geoutet werden. Es kam anders. Geri Müller wurde im bürgerlichen Baden als Grüner gewählt. Die Informationen, die Bilder der Frau waren also höchst willkommen. Bollag setzte sich für die arbeitslose 33-jährige Gymnasiallehrerin ein, brachte sie in Verbindung mit Nationalrat Gerhard Pfister, der ein Privatgymnasium im Kanton Zug leitet. Pfister war aufmerksam, kritisch, durchschaute die Frau. Im Gegensatz zu den anderen beiden.

Und Geri Müller: Er hat, für viele zumindest, moralische Grenzen überschritten. Er hat als Vorbild versagt. Als aufgeklärter Zeitgenosse musste er wissen, dass das, was so schnell und oft unbedacht ins Netz fliesst, niemals privat bleibt. Er war so naiv, wie viele junge Menschen, wie viel Zeitgenossen auch in seinem Alter und darüber hinaus, die über eines nicht aufgeklärt sind, über die Wirkung, die einmal verbreitete Informationen, Bilder, Videos auslösen können, selbst wenn sie schon lange Geschichte sind. Er muss sich jetzt tief ins Innere blicken lassen, in seine dunklen Seiten, die er selbst aufgemacht hat. Er hat Nackt-Bilder einer Frau gesendet. Sie hat diese, als sie sich verlassen und verletzt fühlte, über die Medien mit aktiver Hilfe Interessierter zu Markte getragen. Heute reut es sie, wie der Sonntagsblick schreibt. Plötzlich muss sie sich in den Medien als Täterin erkennen und nicht mehr nur als Opfer. Sie fragt sich: „Wie geht es jetzt wohl Geri Müller“, den sie selbst mal als Erste angeschrieben hat.

Und die Herren Müller (Patrik) und Studer haben allen Anlass, sich wieder einmal an die ethischen Kriterien ihres Berufes zu erinnern und diese wieder zur Leitschnur ihres Wirkens zu erheben.

Über das Schicksal Geri Müllers wird spätestens im Herbst 2015 die Aargauer Wählerschaft entscheiden: Ist er als Politiker auch moralisch noch tragbar?

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