Gnade vor Recht

„Auf das Fest hatte der Landpfleger Pilatus die Gewohnheit (!), dem Volk einen Gefangenen loszugeben, welchen sie wollen“ – (Mt.27,15).

Seitdem, so ist zu lesen, machten sich Machthaber und Staatsoberhäupter aller Länder das Recht zur Gewohnheit, einen Angeklagten zu begnadigen.

Selbst in demokratischen Ländern blieb das Begnadigungsrecht in Geltung. Es umfasst die Berechtigung, rechtskräftig verhängte Strafen zu erlassen, zu ermässigen oder auszusetzen.

Es unterliegt keinem Begründungszwang.

Weithin weltweit hat sich unter Machthabern und Staatsoberhäuptern ein Rest erhalten, als „Gnadenherr“ die geltende Regeln – oft aus traditionellen Gründen kurz vor Weihnachten – ausser Kraft zu setzen, Gefangene zu begnadigen.

So hat es der russische Präsident Putin an Weihnachten 2013 gehalten, hat Chodorkowski, Russlands prominentesten (und reichsten) Gefangenen begnadigt, also vorzeitig in die Freiheit entlassen. Das Begnadigungsrecht steht ihm per Verfassung zu.

Als im Jahr 2007 der König von Marokko, Muhammed VI., Vater wurde, entließ er über 8000 Gefangene, einfach so, ohne Begründung. Als König nahm er, seinen Vorfahren gleich, das Recht für sich in Anspruch, Begnadigungen auszusprechen oder Urteile zu reduzieren.

Auch deutsche Bundespräsidenten sowie die Ministerpräsidenten eines Landes haben das Recht, Gefangene zu begnadigen. Sie entscheiden unabhängig von einem Gesetz und müssen ihre Beschlüsse nicht begründen.

In einem demokratischen Staat dient das Gnadenrecht dazu, die Härten der Rechtsprechung zu einem späteren Zeitpunkt zu korrigieren, unter der Voraussetzung, dass vom Inhaftierten keine Gefahr für die Gesellschaft mehr ausgeht.

Gnade vor Recht gab es im Jahr 2013 für eine 87jährige Frau aus Wuppertal. Weil sie wegen „Beförderungserschleichung in öffentlichen Verkehrsmitteln“ in 22 Fällen angeklagt war („Schwarzfahren“), sollte sie in Untersuchungshaft genommen werden. Der Richter aber ließ Gnade vor Recht ergehen, wandte einen Verfahrenstrick an, so dass die 87jährige den Heiligen Abend doch noch auf freiem Fuß erleben durfte.

Dubais Machthaber Scheich Mohammed Bin-Raschid begnadigteeine junge Norwegerin, die in Dubai vergewaltigt wurde. Die junge Frau zeigte die Tat bei der Polizei an, wurde aber dann wegen „außerehelichem Geschlechtsverkehr“ zu 15 Monate Haft verurteilt. Nach der Begnadigung „erlaubte“ ihr der Scheich, das Land zu verlassen.

Ein Gericht in Saudi-Arabien verurteilte eine Frau wegen unerlaubten Autofahrens zu zehn Peitschenhieben. Weil saudische Frauen gegen das Peitschenhieb-Urteil rebellierten, begnadigte Seine Majestät König Abdullah die Angeklagte. Die Begnadigung wurde über Twitter von der Prinzessin begrüßt und kommentiert: „Dank Gott wurde die Geisselung von Frau Schajma aufgehoben.“

Queen Elizabeth II. begnadigte 60 Jahre nach seinem Tod den Wissenschaftler Alan Turing, der 1952 wegen seiner Homosexualität verurteilt wurde. Turing hatte sich kurz vor seinem 42. Geburtstag umgebracht.

Thailands König Bhumibol hat den wegen Majestätsbeleidigung zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilten US-Bürger Joe Gordon begnadigt. Die zuständige Behörde teilte mit, Gordon habe die „Königliche Gnade“ erfahren.

Lange Zeit war es in Frankreich Tradition, dass die Präsidenten zum Nationalfeiertag einige Verurteilte begnadigen konnten. Sowohl Sarkozy als auch der jetzige Präsident Hollande haben – Presseberichten zufolge – damit gebrochen und beschlossen, keine Begnadigungen mehr vorzunehmen.

Laut Verfassung hat der belgische König das Recht, „von den Richtern verhängte Strafen zu erlassen bzw. zu ermässigen. Seit seinem Amtsantritt im Jahr 2013 hat König Philipp (Filip) bislang elf Menschen begnadigt, darunter einige soziale Härtefälle und Verkehrsrowdys.

Schweizer Parlamentswörterbuch: „Durch Begnadigung kann die Begnadigungsinstanz alle durch rechtskräftiges Urteil auferlegten Strafen ganz oder teilweise erlassen oder die Strafen in mildere Strafarten umwandeln… In Fällen, in denen eine kantonale Behörde geurteilt hat, steht das Recht zur Begnadigung der Begnadigungsbehörde des Kantons zu.“

Im Hausgesetz des Fürstlichen Hauses Liechtenstein heisst es: „Die vorzeitige Beendigung einer Disziplinarmassnahme ist nur im Gnadenweg möglich. Das Recht der Begnadigung steht dem Fürsten zu. Vor seiner Entscheidung hat er die Zustimmung der letzten mit der Disziplinarsache befasst gewesenen Instanz einzuholen. Ein Rechtsanspruch auf Begnadigung besteht nicht.“

Wie stets vor Weihnachten hat auch 2013 der US Präsident Barack Obama Gnade vor Recht walten lassen. Er hat zu Thanksgiving (Erntedankfest) zwei Truthähne begnadigt. Es handelte sich um ein 17 kg schweres Tier mit dem Namen „Popcorn“. Auch ein zweites Tier mit Namen „Caramel“ bewahrte Obama vor dem Feiertags-Tod.

Nach Äusserungen führender Vertreter des Weissen Hauses kann der NSA-Enthüller Edward Snowden nicht mit Milde in seinem Heimatland rechnen – nicht mit Gnade.

„Wo das Tribunal Gottes als letzte Instanz geschleift wird, treten andere an dessen Stelle. So ersetzt etwa die Talkshow die Beichte, ohne die Gnade der Vergebung anbieten zu können.“ [Martin Walser]

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