In seiner «Kleinen Psychologie der Grenzerfahrungen» beschreibt Marc Wittmann aussergewöhnliche Bewusstseinserfahrungen.
Der Titel des Buches «Wenn die Zeit stehen bleibt» spielt auf die Erfahrung an, die wir alle schon gemacht haben: In einer unerwarteten, aussergewöhnlichen Situation sind wir davon derart überwältigt, dass wir den Sinn für den Ablauf der Zeit verlieren. Das hat, sagt Marc Wittmann, Psychologe und Wahrnehmungsforscher in Freiburg i.Br., mit unserer Selbstwahrnehmung und unserer Orientierung in Raum und Zeit zu tun. Der Autor illustriert das an einem fast alltäglichen Beispiel: Wenn wir in den frühen Morgenstunden einmal aufwachen, auf die Uhr schauen und dann, wieder eingeschlafen, einen aufwühlenden Traum haben, werden wir nach dem erneuten Aufwachen erstaunt sein, wie wenig Zeit diese Traumphase gedauert hat – verglichen mit der erlebten Zeit des Traumes.
Es geht aber um mehr: Wittmann untersucht die Wahrnehmung der Zeit in aussergewöhnlichen Situationen von der Schrecksekunde bis zu Meditationserfahrungen, Rauschzuständen und Nahtodeserlebnissen. – Die italienische Übersetzung nimmt einen interessanten Aspekt der Zeitwahrnehmung auf: «Il tiempo siamo noi» (Wir sind die Zeit): Die Zeit ist nur scheinbar eine fixe Abfolge von Sekunden, Minuten und Stunden, in unserem Bewusstsein jedoch läuft sie ganz und gar nicht gleichmässig ab.
Der Augenblick
«Erleben findet nur im jetzigen Moment statt», schreibt der Autor. Er zitiert Karl Jaspers, der dies schon 1919 in seiner Psychologie der Weltanschauung geschrieben hatte. Gerade in unserer Epoche der Ungeduld richten wir unser Denken allzu oft auf das angestrebte Ziel und nehmen den Moment, in dem wir uns gerade befinden, nur unzureichend wahr. Dadurch, sagt Wittmann, geht Lebenszeit verloren. Denn bewusst und intensiv lebt nur, wer im Moment präsent ist. Ausführlich zeigt der Autor, dass wir uns an intensive Erlebnisse genauer und detaillierter erinnern und sie besser im Gedächtnis behalten. Es ist das Erleben aller fünf Sinne, aller Körperwahrnehmungen, aller Gedanken und Emotionen, die sich im Bewusstsein zu dem zusammensetzen, was wir als «Ich» bezeichnen.
Astronomische Uhr
in Prag
Zur Subjektivität der Wahrnehmung des Augenblicks legt Wittmann viel Material vor. Er geht aber noch einen Schritt weiter: Er untersucht, wie sich Meditation auf die Wahrnehmung auswirkt. Wer meditiert, will damit seinen Geist, den Fluss seiner Gedanken zur Ruhe bringen. In einer Studie mit parallel geführten Gruppen konnte der Autor nachweisen, dass sich Menschen mit Meditationserfahrung signifikant länger auf ein Objekt fokussieren konnten als die ungeübten Teilnehmenden. Allein schon die Übung der Achtsamkeit führte zu einem besseren Ergebnis, wenn es darum ging, eine kurze Zeitdauer einzuschätzen.
Faszinierend zu lesen sind die Erfahrungen von Tilmann Lhündrup Borghardt, der in seinen Meditationen über die Grenzen des gewöhnlichen Bewusstseins hinausgeht. Darin wird deutlich, dass sich in solchen mystischen Zuständen die Zeitwahrnehmung auflöst. Dahin kommt man – nach langjähriger Übung -, wenn man vorbehaltlos im Moment verharrt. In der Meditation spielt die Dauer der Zeit keine Rolle mehr.
Verlust von Zeit und Ich
Neurobiologisch gesehen, hat die Zeitwahrnehmung mit gewissen Hirnarealen zu tun, was der Autor in eigenen Forschungen vor einigen Jahren in San Diego untersucht hat. Der Körper, die Gefühle, die Zeit und das Ich sind miteinander verknüpft, wie auch andere Forscher im 20. Jahrhundert postuliert haben. Daraus lässt sich ableiten, dass auch psychische Krankheiten mit Veränderungen in der Zeitwahrnehmung verbunden sind. Depressive Menschen leiden beispielsweise darunter, dass die Zeit geradezu lähmend langsam ablaufe. Dramatischer können epileptische Anfälle verlaufen, wie Wittmann am Beispiel von Fjodor Dostojewski erklärt, der seine eigenen Anfälle als Elemente seiner Romane verwendete. Bei Schizophrenie, sagt der Forscher, kann die Zeit stehen bleiben.
Ein umfangreicher Abschnitt ist der Wirkung von Rauschmitteln und Halluzinogenen gewidmet. Alles, was das Bewusstsein verändert, verändert die Wahrnehmung und damit auch das Zeitempfinden. Der Mythos, dadurch könne sich der Mensch für aussergewöhnliche Erfahrungen öffnen, hat schon immer fasziniert. Der Autor berichtet von verschiedenen Studien, in denen die Wirkung von Drogen, insbesondere Psilocybin, untersucht wird und zeigt die Gefahren, aber auch mögliche Anwendungen auf.
Im Epilog geht Wittmann auf das Phänomen der Nahtodeserfahrungen ein. Mit dem Tod enden Wahrnehmung und Zeiterfahrung. Während Menschen mit einer Nahtodeserfahrung bis vor kurzem als esoterische Phantasten lächerlich gemacht wurden, stellt Wittmann hier einen Wandel in der Wissenschaft fest. Auch eingefleischte Positivisten mussten selbst erleben, dass diese Lichterfahrungen, von denen nach Nahtodeserlebnissen immer berichtet wurde, auch ihnen widerfahren konnten.
Marc Wittmann stützt seine Aussagen auf zahlreiche eigene Forschungen und neueste Studien aus Psychologie und Neurologie. Er zieht aber auch viele Werke der europäischen Geistesgeschichte bei und bleibt bei seinen Ausführungen stets im Rahmen des Allgemeinverständlichen. Das macht dieses Buch auch für Laien äusserst reizvoll und leicht lesbar.
Marc Wittmann, Wenn die Zeit stehen bleibt.
Kleine Psychologie der Grenzerfahrungen
C.H.Beck Verlag München 2015; 173 Seiten, auch als E-Book lieferbar
ISBN 978 3 406 67455 6
Foto: Prag, Astronomische Uhr © Maros / commons.wikimedia.org