StartseiteMagazinGesellschaftZwei Seiten hat unser Gesundheitswesen

Zwei Seiten hat unser Gesundheitswesen

Die bestmögliche Therapie muss nicht in jedem Fall auf neuester Technik beruhen.

Janusköpfig erscheint das Gesundheitswesen der Schweiz: Auf der einen Seite die Hausärzte, die mit angemessener Medizin, mit Beratung und Begleitung auf ihre Patienten, ihre Bedürfnisse und ihr Umfeld eingehen, auf der anderen Seite die Medizin in Spitälern, wo offensichtlich Operationen allein des guten Geldes wegen durchgeführt werden. Vor wenigen Tagen wurde die Nachricht veröffentlicht, dass auch in Spitälern ein in den letzten Jahren vielgeschmähtes Phänomen Einzug gehalten hat: Ärzte erhalten Boni als Anreiz für Operationen. In einer kürzlich erschienenen Studie der Ärztegesellschaft FMH steht, heute bekomme ein Viertel aller Mediziner im Spital einen Bonus für häufiges Operieren. Bei den Chefärzten bestünde bereits ein Viertel des ganzen Lohns aus einer «leistungsabhängigen Prämie». – Das missfällt auch der Ärztegesellschaft. Deshalb regt sie an, solche Boni nach anderen Kriterien zu verteilen: Nicht nach der Anzahl durchgeführter Operationen, sondern nach Pflege, Hygiene u.a.

Ein anderes Bild davon, wie Medizin praktiziert werden kann, vermittelt das kleine Buch «Qualität in der Medizin» der Ethnologin Andrea Abraham und dem Hausarzt Bruno Kissling. Aus der Dissertation von Andrea Abraham hervorgegangen, ist es in Briefform gehalten. Eine reizvolle Idee, ist doch der etwas trockene und ursprünglich rein wissenschaftliche Inhalt in dieser dialogischen Form auch für Laien lesbar und verständlich. Was Qualität in der Medizin bedeutet, wird aus zwei verschiedenen Perspektiven erörtert. Die Ethnologin ist gehalten, die Massstäbe für Qualität von aussen zu notieren und die Veränderungen im Gebäude der Medizin zu beobachten; der Hausarzt berichtet aus seiner mehr als dreissigjährigen Erfahrung von innen heraus als Handelnder.

Den Autoren ist es ein Anliegen, «Qualität in der Medizin» ganzheitlich zu betrachten, dazu gehören auch kulturelle, soziale und philosophische Aspekte. Der Hausarzt ist den Lebensphasen des Menschen näher als viele Spezialisten. Seit seinen Anfängen fühlte sich Bruno Kissling der Qualität als Grundlage seines Tuns verpflichtet, als Hausarzt verfügbar zu sein und verantwortlich im Sinne der Patienten zu handeln. Aber in den 1980-90er Jahren verstand er sie anders als mit wachsender Erfahrung, wie er selbst schreibt: «Damals war ich noch sehr ’spitalgläubig› . . . ich nahm mich als verlängerten Arm des Spitals und der Spezialisten wahr. . . . Es dauerte rund zehn Jahre, bis für mich dieses Handeln im Auftrag der Sekundär- und Tertiärmedizin nicht mehr tragbar war.» Seine Einsichten haben sein Verständnis von Qualität verändert, sein Handeln als Hausarzt hat sich weiterentwickelt. Der Wendepunkt war das Inkrafttreten des neuen Krankenversicherungsgesetzes 1996, das einen Qualitätsbegriff vorlegte, über den seitdem diskutiert wird.

Das Krankenversicherungsgesetz von 1996 als Zäsur

Das Buch beschränkt sich keineswegs auf die Diskussion über die Entwicklung des Gesundheitswesens in der Schweiz. Viel gehaltvoller sind die Berichte von Bruno Kissling über Patienten, die er in den letzten Jahren betreut hat. Die Tätigkeit eines Hausarztes hat sich in den letzten Jahren stark verändert, stellt Kissling fest. Waren es früher vorwiegend Patienten mit akuten Krankheiten, so leiden viele nun gleichzeitig an mehreren Krankheiten: «Die Zahl der polymorbiden Menschen und der Krankheiten pro Patient nimmt stetig zu.» Dabei erstaunt, dass viele auf die Frage nach ihrem Befinden zunächst spontan «sehr gut» antworteten. Das erscheint paradox, aber mit den heutigen Behandlungsmethoden sei ein normales Leben durchaus möglich.

Der Hinweis der Ethnologin auf eine der vielen Richtlinien (‹Guidelines›), die ein Arzt zu beachten hat, führt Kissling dazu, den Fall eines schwer pflegebedürftigen alten Menschen zu skizzieren. Dieser soll vom Spital in ein Pflegeheim verlegt werden. Aufgrund seiner Beharrlichkeit, die er sich eben in langer Erfahrung angewöhnt hat, gelingt es dem Hausarzt, dass diesem alten Menschen einige belastende medizinische Massnahmen, die laut Guidelines vorgeschrieben wären, erspart werden und er seine kurze verbleibende Lebenszeit in Frieden im Pflegeheim verbringen kann. Kissling schildert, wie viele Telefongespräche und wie viele Argumente notwendig waren, bis er die überweisenden Spitalärzte überzeugen konnte. Ein gestandener Hausarzt traut sich das zu – aber ein junger Arzt? Kissling erwähnt auch, dass viele Vorsorgeuntersuchungen, die heute dank ausgeklügelter Technik möglich sind, nur dann sinnvoll sind, wenn sie kompetent begleitet werden. «Schutz vor unnötigen Untersuchungen, unnötiger Therapie und Prävention sind seit wenigen Jahren brandaktuelle Themen», schreibt er.

Münze mit Januskopf (ca. 220)
© commons.wikimedia.org

Die Aspekte, die zu Qualität in der Medizin gehören, werden in den Kapiteln des Buches von wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Seite beschrieben und durch die Praxiserfahrung in ein neues Licht gestellt. Der Fokus bleibt nicht an Ärzten, medizinischem Personal und Spitälern hängen. Auch die Patientinnen und Patienten sind Teil des Spiels. Sie fordern – zu Recht – stets die bestmögliche Behandlung für sich. Nur geht dabei der Blick auf die entstehenden Kosten zuweilen verloren. «Von einer Krankheit betroffen, gelingt es uns nicht mehr, rein rational zu bleiben und unsere Bedürfnisse kühl gegen die zu erwartenden Kosten abzuwägen», stellt Kissling fest. Fordernde Patienten, zumal wenn sie an schwer zu behandelnden Krankheiten leiden, sind für den Arzt in jedem Fall die grösste Herausforderung, nicht nur fachlich-ärztlich, sondern auch menschlich-emotional.

Die Lektüre des Buches legt den Schluss nahe, dass ‹Qualität› in der Medizin ein Ziel bleibt, das Ärzte und Patienten gemeinsam anzustreben haben, Qualität muss aber immer wieder neu austariert werden.

Andrea Abraham / Bruno Kissling: Qualität in der Medizin
Briefe zwischen einem Hausarzt und einer Ethnologin
EMHMedia (Schwabe Verlag) 2015. 177 Seiten. Broschiert.
ISBN 978-3-03754-084-8; auch als E-Book erhältlich.

Weitere Informationen zur Zahlung von Boni in Spitälern
SRF-News vom 7. Januar 2016

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