Es ist vollbracht. Der längste Bahntunnel der Schweiz durfte am Wochenende auch von der Bevölkerung genutzt werden. Eine Fahrt zwischen Nostalgie, Erinnerungen und Hoffnung.
Das durfte ich mir nicht entgehen lassen, habe ich doch in meiner journalistischen Laufbahn den Furkatunnel, den Gotthard-Strassentunnel und den längsten Bahntunnel der Welt während den Durchstichen, Bauphasen und Eröffnungen journalistisch begleitet.
Jetzt sitze ich im Zug, der mich von Rynächt bei Erstfeld in 27 Minuten nach Pollegio im Tessin bringen wird. Aus dem Kopfhörer meines iPhon ertönt Rossinis grösstes Meisterwerk, die Ouverture Wilhelm Tell, passend zum Anlass.
Ich erhoffe mir, dass sich der Takt der Musik mit dem Geräusch der Räder synchronisieren wird. Doch es kommt alles ganz anders.
Der Zug setzt sich langsam in Bewegung. Und er rollt wie auf einem Teppich. Kein Rütteln, keine Geräusche von den Rädern wie früher. Trotzdem, Rossinis Wilhelm Tell versetzt mich in eine eigenartige Stimmung.
Der Zug fährt zum Nordportal und nimmt Fahrt auf. Es wird dunkel. Die vorbeihuschenden Lichter des Tunnels versetzen mich fast in einen Trancezustand. Leicht amüsiert beobachte ich die anderen Gäste, die wie wild den Tunnel fotografieren.
Sie werden bei der Ausbeute der Bilder nicht viel mehr sehen als eine Felswand. Ich lehne mich zurück, schliesse die Augen und erinnere mich an viele Geschichten, die ich im und rund um den Tunnel erleben und beschreiben durfte. Die vergeblichen Bemühungen in Sedrun, eine Verbindung zum Tunnel für den Tourismus zu schaffen, die harte Arbeit der Tunnelarbeiter, die 9 Toten, die es zu beklagen gab.
Und vor allem die Gechichte der 8 Pfadis aus Horgen ZH, die im Jahre 1965 während mehreren Tagen in der Etzlihütte auf 2062 Meter über Meer gefangen waren. Ich öffne die Augen und stelle fest, dass der Zug im Moment genau 1600 Meter unter der Etzlihütte durchfährt.
Die Pfadis waren in einen Schneesturm geraten. Die ganze Schweiz bangte und fragte sich: Leben sie noch? Oder haben sie in der Etzlihütte Schutz gefunden? Wegen Lawinengefahr war an eine Suchaktion nicht zu denken und fliegen konnte man wegen dem Nebel auch nicht. Die Pfadis selber waren über einen Taschenradio immer im Bilde, wie man sich um sie sorgte.
Nach 6 Tagen fand der Helipilot eine Lücke und flog die Pfadis nach Sedrun. Ich schrieb damals: „Stumm, mit zugeschnürter Kehle lagen sich in Sedrun auf einer Wiese beim Bahnhof Menschen in den Armen, Väter, Mütter, Söhne und Töchter. Und dann sahen sie sich an, mit feuchten, strahlenden Augen. Die acht Pfadis waren einander wiedergeschenkt worden. Das sechstägige Abenteuer in den entfesselten Schneestürmen im Gebiet Bristen war überstanden.“
Guter Empfang für Natel und Fernsehen
Rossinis Ouverture ist zu Ende. Zeit, die Verbindungsmöglichkeiten im Tunnel zu testen. Sie sind hervorragend. Auf dem iPhon erscheint das Schweizer Fernsehen, das zeitgleich während Stunden eine Direktsendung ausstrahlt. Und mitten im Tunnel geniesse ich Emil Steinberger, der seine Nummer „s’Chileli vo Wasse“ in einer Halle in Pollegio wiedergibt. Auf mein schallendes Lachen können sich die übrigen Fahrgäste keinen Reim bilden.
Der Zug bremst, wird langsamer, das Zeichen, dass wir in Pollegio sind. Und dann wird es hell. Alle klatschen. Auf dem Festgelände werden viele Informationen und Tessiner Spezialitäten angeboten.
Ankunft in Pollegio TI
Über 100’000 Besucher bevölkerten die Festgelände in Erstfeld und Pollegio (Bild)
Tessiner Spezialität: Polenta Auf der Rückfahrt das Chileli vo Wasse
Auf der Rückfahrt über die Bergstrecke kommt Wehmut auf. Das soll künftig nur noch beschränkt möglich sein? Die gemütliche Fahrt durch die vielen Tunnels, entlang der satten Wiesen, schönen Wälder und schmucken Dörfer?
Und dann vor allem s’Chileli vo Wasse. Die Fahrgäste fotografieren. Wir alle hoffen, dass die Bergstrecke erhalten bleibt.
Fotos: Josef Ritler