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Gedichte sind Lebensmittel

Eugen Gomringer, *1925, Erfinder der konkreten Poesie, und Nora Gomringer, *1980, Lyrikerin und Spoken-Word-Frau sind vereint im Museum Strauhof

Nein, um eine Retrospektive geht es bei der Literaturausstellung mit dem Titel Gomringer&Gomringer – Gedichte leben nicht. Sie zeigt anhand einer besonderen Konstellation, wie sich Dichtung über Jahrzehnte und Generationen verändert. Konstellationen nennt Gomringer seine konkreten Gedichte, Wort-Bilder wie Stern-Bilder.

Konkrete Poesie an der Wand des Museums Strauhof: Zum Meditieren beim Spaziergang

Wie nur bringt man Literatur in Ausstellungsräume? Den Kuratoren Gesa Schneider und Rémi Jaccard sowie ihren Szenografen ist es gelungen. Gomringer&Gomringer ist kurzweilig und hintergründig, die Zeit der Konkreten in den 50er und 60er Jahren lebt auf, das Aktuelle der Spoken Word-Szene spielt herein. Zwar sind sie Vater und Tochter, zwar arbeiten sie vor (im Foto eins zu eins gezeigten) dichtgepackten Bücherwänden (mal mit Gabriele, der portablen Schreibmaschine von Triumph, mal mit einem Apfelcomputer und weiterer Elektronik), zwar dichten beide, aber ihre Arbeiten, das wird auf eine beiden gerecht werdenden Weise deutlich gemacht, könnten verschiedener nicht sein – tatsächlich? Das Gemeinsame kommt durch die Hintertür: das Forschen auf dem je aktuellen Zeitgeist, das Experimentelle im Umgang mit der Sprache, einerseits die Wörter als Bild, das Gedicht als Ikone, andererseits die Wörter als Ton, das Gedicht als Musik.

Lebensdaten sind bei Ausstellungen gefragt, hier im Strauhof fanden die Ausstellungsmacher eine bessere Idee: statt das übliche Curriculum aufzulisten, sammelten sie bei den Protagonisten Dokumente, Fotos, Aussagen, und bauten dami eine wandfüllende Collage, eine Mind Map voller Hinweise und Assoziationen, Erinnerungsbildern und Zitaten von einst und jetzt:

Berührend die Aussagen zu Nortrud Gomringer, der Germanistin. Eugen sagt: „Meine Frau ist meine Website und meine Cloud,“ und weist auf ihre Omnipräsenz hin, Nora sagt: „Meine Mutter ist eine herrliche Frau, die unseren Literatenhaushalt zusammenhält mit Kompetenz, Kommasetzung, Korrekturen, Kochen und Kritik. Ihr Urteil ist präzise, schneidend und unbestechlich, denn: Mama hat Stil.“ Für den Reader zur Ausstellung schrieb Germanistin Gomringer über „unsere Konstellation“, erzählt, wie alles kam, auch das Wunschkind mit der Konstellation der Eltern-Vornamen: Nora-Eugénie.

Nora Gomringer nach einem Auftritt im Literaturhaus Zürich

Zwei Interviews parallel montiert gewähren weiteren Einblick in die Lebens- und Gedankenwelt von Gomringer Vater und Tochter. Beispiel digital: Für Eugen Gomringer sind es die Semiotik und die Informationstheorie, welche in den 50er Jahren das Denken umkrempelten, den Computer rührt er nicht an. Nora Gomringer dagegen probierte schon als Kind einen  Commodore und sagt zufrieden und freudig, was ihr Facebook bedeutet: Kommunikation und Freundschaften. Nachschauen lohnt sich!

Spielerische Leichtigkeit beim Rühren in der sprachlichen Ursuppe und tiefes Vertrauen in die Kraft der Wörter– das trifft sowohl auf Eugen wie auf Nora Gomringer zu. Was daraus wird, ist in der Zeit verortet: der von der konkreten Kunst beeinflusste Wortkünstler entwickelt die konkrete Poesie, und wird zum Leitstern einer Nachkriegs-Autorengeneration; erinnert sei an Ernst Jandl oder Claus Bremer. Ein paar Gedichte von Eugen Gomringer, gedruckt auf Sperrholzplatten, hängen in einem Museumsraum an den Wänden oder schweben von der Decke: Bilder aus Wörtern.

Die Schriftstellerin und Bachmann-Preisträgerin von 2015 drängt es auf die Bühnen, denn Lyrik soll gehört werden. Ihre aufgezeichneten Experimente und Performances sind in einer Installation aus uralten Röhrenfernsehern und an einer Audio-Station zu geniessen. Spätestens bei der Vernissage-Ansprache des 91jährigen Eugen Gomringer wird auch jenen klar, die ihn noch nie erlebten, dass auch er ein grossartiger Perfomer ist, seine Konstellationen den Klang brauchen.

Während Reden bei Vernissagen von Literaturausstellungen regelmässig in Standardsprache gehalten werden, begrüsst der alte Gomringer ganz locker auf Züritüütsch, der Sprache seiner Jugend („geboren in bolivien / jugendjahre in zürich / erfindung der konkreten poesie in bern / und heimisch geworden in deutschland“). Und demonstriert sogleich, dass konkrete Poesie keine Sprachgrenzen kennt: Mit Avenidas einerseits, mit dem Schwiizer andererseits. Beide nachzulesen auf den Sperrholztafeln in der Ausstellung. Letzteres war uns, seit wir es erstmals hörten, die präziseste, messerschärfste Charakterzeichnung der Eidgenossen. So wenige Worte, so viel Wahrnehmung:

schwiizer

luege
aaluege
zueluege

nöd rede
sicher sii
nu luege

nüd znäch
nu vu wiitem
ruig bliibe

schwiizer sii
schwizer bliibe
nu luege.

Gomringer dachte es sich als Autoporträt aus, aber es sei „geradezu zu einem heimlichen Schweizerpsalm“ geworden. Peter von Matt emeritierter Literaturprofessor formulierte 2015 einleuchtend in seiner Geburtstagsrede für Eugen Gomringer: „Wie bei allen Köpfen, die das Mittelmass übersteigen, wissen die meisten Schweizer nicht, was sie an ihm haben, und das geschieht ihnen recht. Ignoranz bestraft sich selbst. Sie tut es aber auf humane Art; man merkt nichts davon.“

Dem unglaublich präsenten und lebhaften 91jährigen genügte nie, vom Dichten zu leben. So war er Sekretär von Max Bill in Ulm, Werber mit Ernst und Ursula Hiestand (live am 7. Dezember im Literaturhaus), Kulturbeauftragter der Porzellanmanufaktur Rosenthal, Geschäftsführer des Werkbunds, gefragter Dozent in der halben Welt und Gründer und Leiter des Instituts für Konstruktive Kunst und Konkrete Poesie im Museum Rehau, heute sein Lebensmittelpunkt.

Auch Nora Gomringer genügt das Dichten und Performen als Lebensentwurf nicht. So arbeitet sie als Direktorin des Internationalen Künstlerhauses Villa Concordia in Bamberg, hat Poetikdozenturen im In- und Ausland inne und kuratiert Poesie-Festivals und experimentiert mit dem Medium Film. Sie wird die Finissage der Gomringer&Gomringer-Ausstellung am 7. Januar 2017 zum Ereignis machen.

Nebst dem Reader hat die Strauhof-Crew auch eine Baumwolltasche im Angebot, wo die Ode an Züri von Eugen, und die Ode für Zürich von Nora in blau auf rohweiss oder umgekehrt – ZH-Wappen-Design – aufgedruckt sind. Grad rechtzeitig zur Raschelsäckli-Rationierung.

Schon sind beide auf neuen kreativen Pfaden unterwegs: Eugen Gomringer schreibt Sonette – wiederum eine strenge Form, die ihn reizt, die richtigen Worte einzubauen, Nora Gomringer macht Filme: Jugo-Kino, zusammen mit Judith Kinitz.

Teaserbild: © Malte Göbel
Bis 8. Januar 2017
, alle Infos finden Sie hier.
Das Museum Strauhof ist für Aficionados übrigens jeden Donnerstag bis Mitternacht geöffnet.

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