Eine moderne westliche Gesellschaft setzt sozial verantwortliches Handeln voraus. Dies zeigt sich im Alltag als gute Nachbarschaft und Zivilcourage.
Wer sich fragt, wie unsere Gesellschaft funktioniert, muss die Bedingungen sozial verantwortlichen Handelns im Alltag erforschen. In einem gemeinsamen Vortrag zum Abschluss einer Ringvorlesung des Psychologischen Instituts der Universität Zürich stellten Veronika Brandstätter und Johannes Ullrich Erkenntnisse aus neuen Forschungen vor. Im Vordergrund standen diese Fragen: Wie können wir angesichts der Vielfalt an Interessen und der sozialen Unterschiede sozial verantwortlich miteinander umgehen? Wie lässt sich «gute Nachbarschaft» definieren? Wann zeigen Menschen Zivilcourage?
Was bedeutet Zusammenhalt in einer Gesellschaft?
Jede Gesellschaft besteht aus unterschiedlichen sozialen Strukturen, Gemeinden, Vereinen, Schulen u. a. Die Schweiz, erklärte Johannes Ullrich, wird von Soziologen in ihrer Gesamtstruktur als Gewebe beschrieben, das durch seine – symbolisch gesprochen – Quer- und Längsfäden gut verbunden und damit belastbar ist. Im Unterschied dazu hat Belgien eine wenig belastbare, «aneinander geflickte» föderalistische Struktur, was sich gerade in den letzten Jahren in einer überlangen Regierungskrise zeigte.
Radfahrer © Peter Herlitze / pixelio.de
Der für jede Gesellschaft, für jede Form von Gemeinschaft notwendige Zusammenhalt entsteht grundsätzlich aus dem Verhalten jedes einzelnen. Georg Simmel,einer der Väter der Soziologie, skizzierte 1908 als Beispiel für alltägliches Sozialverhalten den Zusammenhalt in einer Gesellschaft folgendermassen:
«Dass die Menschen sich gegenseitig anblicken und dass sie auf einander eifersüchtig sind; dass sie sich Briefe schreiben oder miteinander zu Mittag essen; dass sie sich, ganz jenseits aller greifbaren Interessen, sympathisch oder antipathisch berühren; dass einer den andern nach dem Wege fragt und dass sie sich für einander anziehen und schmücken – all diese (Bande) knüpfen uns unaufhörlich zusammen.
An jedem Tage, in jeder Stunde spinnen sich solche Fäden, werden fallen gelassen, wieder aufgenommen, durch andre ersetzt, mit andern verwebt.
Hier liegen die . . . Wechselwirkungen zwischen den Atomen der Gesellschaft, die die ganze Zähigkeit und Elastizität, die ganze Buntheit und Einheitlichkeit dieses so deutlichen und so rätselhaften Lebens der Gesellschaft tragen.»
Kontakte – Mittel gegen Entfremdung
Inwieweit lässt sich solches Verhalten beschreiben, so dass in Zukunft Spannungen vorgebeugt werden kann. Johannes Ullrich stellte fest: Je kürzer die räumliche Distanz ist, desto eher befreundet man sich. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich jemand auf irgendeine Weise sozial verhalte, steige nämlich mit der Zahl der Gelegenheiten, so Ullrich. Diejenigen, die in einem Wohnheim näher beieinander wohnen und sich oft begegnen, werden untereinander schneller bekannt bzw. befreundet. Je sozial unterschiedlicher die Bewohner einer Wohnsiedlung sind, desto geringer sind die Kontakte untereinander. Wenn jedoch unterschiedliche Gruppen einen Anlass haben, miteinander in Kontakt zu kommen, fördert das die Verträglichkeit. Für gutgebildete Menschen gilt das in grösserem Masse als für schlecht ausgebildete. Dazu tragen informelle soziale Kontrolle im Quartier bei, ausserdem soziale Bindung und Vertrauen bzw. das Gefühl von Sicherheit sowie stabile Wohnverhältnisse. Untersuchungen dazu – mit vergleichbaren Ergebnissen – liegen aus so unterschiedlichen Grossstädten wie Chicago und Stockholm vor.
Zusammenhalt © Fabian Fellmann / pixelio.de
Bestehende oder fehlende Kontakte zwischen diversen Gruppen sind auch in Zürich erkennbar, untersucht am Verhalten von Nachbarschaftsgruppen, der Auswahl der Schulen für die Kinder u. a. Am gravierendsten sind nicht eingestandene Vorurteile, die eine Wahl des Wohnquartiers und der Schule sowie die Offenheit zwischen den Bevölkerungsgruppen beeinflussen. Eine «bessere» Gegend definiert sich eher durch eine kleine Zahl von Ausländern, weniger durch den gepflegten Zustand der Häuser. – Trotz alledem: Sozialverträgliches Miteinander braucht die Durchmischung unterschiedlicher Gruppen. Wichtig ist, dass einzelne Gruppen nicht «abgehängt» werden.
Zivilcourage entwickeln
«Parolen – Pöbeleien – Prügeleien fordern Zivilcourage als Antwort.» Dies die Überzeugung von Verena Brandstätter angesichts der wachsenden Respektlosigkeit im öffentlichen Leben sowie in den Medien. Gewalt steht der Demokratie entgegen. Die demokratische Staatsform fordert die Notwendigkeit des Miteinander und, sofern das Miteinander gefährdet ist, Zivilcourage, und das bedeutet, Verantwortung zu übernehmen.
Zivilcouragiert zu handeln, braucht – das Wort sagt es – Mut. Da steht nämlich die innere Einstellung eines Menschen oft im Widerspruch zu seinem effektiven Verhalten, dies aufgrund von Angst vor den negativen Folgen. Verena Brandstätter sagte, es klaffe in Statistiken ein grosser Abstand zwischen der Feststellung eines Unrechts und dem tatsächlichen aktiven Eingreifen. Wer mit Zivilcourage handelt, muss sich in dem kulturellen und rechtlichen Rahmen, in dem er sich befindet, auskennen. Er muss sich von der öffentlichen Meinung getragen wissen und eine klare, eindeutige Situation vor sich haben. Ebenfalls wichtig sind Vorbilder.
Freunde © Marvin Siefke / pixelio.de
Je mehr sich jemand dem Humanismus verbunden fühlt, desto eher ist er bereit zu intervenieren. Zweifler, Grübler, innerlich unsichere, nervöse Menschen zögern und ziehen sich eher zurück. Eine Person, die Zivilcourage zeigt, ist sich ihrer Werte bewusst, kann einen kühlen Kopf behalten, besitzt Empathie und Selbstvertrauen und weiss, was man in einer solchen Situation kann bzw. darf. Die Bereitschaft zu Zivilcourage zu stärken, ist ein wichtiges Ziel einer Gesellschaft. Erreicht wird es, wenn sich auch Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten näherkommen und sich untereinander vertrauen. Zudem ist es wichtig, die Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit dadurch zu überwinden, dass wir uns die richtigen Ziele setzen.
Die italienische Journalistin Franca Magnani schrieb einmal: «Je mehr Bürger mit Zivilcourage ein Land hat, desto weniger Helden wird es einmal brauchen.»
«Lebenslange Gesundheit und Leistungsfähigkeit des Menschen» – Die Ringvorlesung im Herbst 2016 wurde veranstaltet von der Alumni-Organisation des Psychologischen Instituts in Kooperation mit dem Psychologischen Institut der UZH, dem Kantonalverband der Zürcher Psychologinnen und Psychologen und dem Zentrum für Gerontologie.
Prof. Dr. Veronika Brandstätter, Allgemeine Psychologie: Motivation, Universität Zürich
Prof. Dr. Johannes Ullrich, Sozialpsychologie, Universität Zürich