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Perspektiven bis ins Grenzenlose

Varlin und Anja Ganster sind im Museum Franz Gertsch in Burgdorf zu Gast – eine überraschende Begegnung mit Tiefgang

Bondo, Varlins Wohn- und Arbeitsort in seinen späten Jahren, war am Tage der Vernissage durch den zweiten grossen Murgang vollkommen von der Umwelt abgeschnitten. Nicht auszudenken, meinten die Museumsverantwortlichen in Burgdorf, wenn sie wie sonst üblich den Ausstellungsbeginn – die erste Varlin-Ausstellung seit zehn Jahren – einen Monat später angesetzt hätten. Zum Glück waren die Werke aus Varlins Atelier sowie die anderen Leihgaben für diese Schau, die das Lebenswerk des Künstlers 40 Jahre nach seinem Tod umfassen sollte, rechtzeitig ins Museum gelangt. Die festungsartigen Mauern, von einem Mäzen vor 15 Jahren für den Berner Künstler Franz Gertsch erbaut, erwecken den Eindruck, als wollten sie ihre Schätze nur nach innen offenbaren, abgeschottet von äusseren Einflüssen.

Das früheste Werk zeichnete der Künstler noch mit seinem bürgerlichen Namen: Willy Guggenheim. Während seiner Jahre in Paris hatte er sich überzeugen lassen, dass ein Künstlername besser zu ihm passen würde. ‹Guggenheim› lasse zu sehr an Finanzen denken – die Guggenheim-Museen bestanden damals noch nicht. Eugène Varlin war Anarchist und Kämpfer der Pariser Commune, er wurde 1871 hingerichtet. Anarchist war der Maler Varlin wohl nicht, aber ein scharfer Beobachter mit kritischem Witz und einem Hang zur Satire. Um Motive zu sammeln, befasste sich der Künstler gern mit Orten wie Zuchthäusern, Irrenanstalten oder Pferdemetzgereien. «Dort verkehren Menschen, keine Kleiderständer», wird er zitiert.

Varlin Selbstbildnis, 1975 Öl, Kohle, Stroh, Haare und Metall auf ungrundierter Jute. 205 × 180.5 cm Kunsthaus Zürich, Vereinigung Zürcher Kunstfreunde, 1979 © 2017, P. Guggenheim/ProLitteris, Zurich

Anna Schafroth, die Kuratorin des Varlin-Teils, bezeichnet den Maler als zwar weitherum bekannt und zugleich so unbekannt, als käme er von einem fernen Planeten. Sie erwähnt Friedrich Dürrenmatt, dem dieser Gegensatz von Nähe und grenzenloser Ferne vertraut war. Die Freundschaft der beiden nennt sie eine Wahlverwandtschaft. Beide, sagt die Kuratorin, haben in der Nachkriegszeit ihren Blick auf die Gesellschaft in ihren verschiedenen Facetten geschärft. Die Ausstellung zeigt ein Portrait von Dürrenmatt, wie er aufrecht in seiner ganzen Fülle auf dem Bett in Varlins Atelier sitzt. Zu seiner Linken hat Schafroth das Bild platziert, das Dürrenmatt von Varlin erworben hatte und ebenfalls links neben seinen Schreibtisch gehängt hatte. Es ist die grossformatige Darstellung «Heilsarmee», für die Expo 64 in Lausanne geschaffen, ein doppelbödiges Werk: die uniformierten Sänger mit Gesichtern, die ausdrücken, was hinter den Fassaden steckt.

Über das erwähnte Bett erzählt die Kuratorin folgende Anekdote: Der Schauspieler Ernst Schröder, auch er mit Varlin befreundet, kam ins Atelier, um sich malen zu lassen. Varlin fragte ihn, ob er ein Kostüm mitgebracht habe, was Schröder verneinte. Darauf antwortete der Maler, dass er einen Schauspieler nur in einer seiner Rollen oder nackt malen könne. Also zog sich Schröder aus und legte sich auf Bett. Das Bild zeigt den Schauspieler mit aufgestellten Beinen und einem hintergründigen Grinsen im Gesicht. Auch das leere Bett hat Varlin gemalt, in der Mitte übertrieben durchhängend, als ob es die Last derer, die darauf gelegen haben, nicht mehr tragen könnte.

An der gegenüberliegenden Wand hängt das grösste Gemälde dieser Ausstellung: «Gente del mio paese», ein heiteres Alterswerk. Es drückt aus, dass Varlin im Bergell seinen Ort gefunden hatte und sich inmitten der Menschen wohl fühlte, ohne dass er dabei seinen Witz verloren hätte.

Varlin Gente del mio paese, 1975–76 Öl, Kohle und Filzstift auf ungrundiertem Blachenstoff. 272 x 777 cm Museo Ciäsa Granda, Stampa © 2017, P. Guggenheim /ProLitteris, Zurich

Franz Gertsch, genau 30 Jahre jünger als Varlin, zeigt ein weiteres grossformatiges neues Werk: Meer 2017, ein Seestück; das Meer ist nach einem Morgengewitter aufgewühlt und steht damit in einer jahrhundertealten Tradition. Franz Gertsch bezieht sich jedoch auf seinen Aufenthalt in Les Saintes Maries de la Mer im Jahre 1971. In einem anderen Raum hängen neben dem «Sommer» aus dem Vier-Jahreszeiten-Zyklus vier farblich leicht variierende aufeinander abgestimmte Farbholzschnitte dieses Themas, ein neues Werk des Künstlers.

Franz Gertsch Meer 2017; 2016/17 Eitempera auf ungrundierter Baumwolle. 240 x 340 cm Besitz des Künstlers / collection of the artist © Franz Gertsch

Alle Arbeiten von Franz Gertsch bestechen durch Feinheit und Präzision in der Darstellung auf zumeist übergrossen Formaten. Wir können ein Bild ganz nah betrachten und erkennen, wie genau jeder Pinselstrich sitzt, und aus der Ferne erkennen, wie viel Leben und Plastizität dieses Werk ausstrahlt. Das gilt auch für die vielen Portraits, die Gertsch angefertigt hat. Ausdruckskraft und Individualität scheinen aus dem Inneren der Portraitierten auf. Der Künstler lebt für sein Werk, nicht für seinen persönlichen Ruhm. Mit leichten Schritten betritt der 87-jährige mit seiner Frau den Saal der Vernissage und nimmt ohne viel Aufhebens seinen Platz ein.

Anja Ganster gibt ihrem Beitrag den Titel «Gezeitenreibung (Konstellation 6)». Damit spielt sie auf ein astrophysikalisches Phänomen zwischen Erde und Mond an, das die Gezeiten der Meere beeinflusst. Die Künstlerin, 1968 in Mainz geboren, lebt seit einiger Zeit in Binningen BL. Sie zeigt Werke aus den letzten Jahren, ebenfalls ein mehrteiliges Gemälde, das eine ganze Wand füllt: ein Blick auf eine Mondlandschaft. Ausgehend von einer Fotografie der Apollo-Mission 1969 setzt sich Anja Ganster damit auseinander, was das Bild zeigt und was wir sehen wollen. Neben vielen kleineren Bildern mit Variationen zur malerischen Perspektive hat die Künstlerin in der Mitte des Raumes eine Installation ausgelegt, eine scheinbar ungeordnete Zahl von Kegeln aus Lava. Dieses Werk (s. Foto) hatte sie erstmals bei ihrem Aufenthalt in Brasilien konzipiert. Damals hatte sie zusammengepressten Kaffeesatz verwendet, der inzwischen zerfallen ist.

Anja Ganster constellation 1 (rural.scapes), 2014 Ausstellungsansicht, Kaffee; Dimension variabel. Besitz der Künstlerin © 2017, ProLitteris, Zurich

Ein Ereignis sei noch erwähnt, das Dürrenmatt mit seinem Interesse an Astronomie und Weltraumphysik fasziniert hätte: Der größte Asteroid seit mehr als 100 Jahren flog am Tag der Vernissage ungewöhnlich nah an der Erde vorbei. Die indianischen Schamanen, die seit jeher einen Zusammenhang zwischen innerem Geschehen und äusseren Ereignissen erkannten, hätten dies als «confirmation of the world around us» bezeichnet. Darin ähneln Künstler den Schamanen, sie erforschen die Welt oft nicht nur mit dem Verstand, sondern dehnen ihre Wahrnehmungen aus bis ins Grenzenlose.

Die Werke von Franz Gertsch und Anja Ganster werden von Anna Wesle, der Kuratorin des Hauses betreut.

Die Ausstellung im Museum Franz Gertsch / Burgdorf dauert noch bis 4. März 2018 (Franz Gertsch und Varlin), bis 28. Januar 2018 (Anja Ganster).

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