Fabienne ist todkrank und stellt sich und ihrer Freundin Fragen. Nathalie Oestreicher dokumentiert, kommentiert und ergänzt diese im Film-Essay «Apfel und Vulkan» und lädt uns zu Antworten ein.
Eigentlich wollte Nathalie Oestreicher mit ihrer Freundin Fabienne Roth einen Film über das Muttersein drehen. Diese aber hat eine Krankheit, die schneller als erwartet voranschreitet, was den beiden Frauen einen Strich durch die Rechnung macht. Jetzt, angesichts des Todes, gilt Fabiennes grösste Sorge ihren zwei kleinen Töchtern. Von Nathalie will sie erfahren, wie diese als Kind mit dem Tod ihres schwierigen Vaters und ihres idealisierten Bruders umgegangen ist. Sie will verstehen, was ihre Kinder bald erleben werden. Nathalies Sicht auf ihre Kindheit hat sich zu einer Geschichte verfestigt, die nicht mehr reicht, um die Fragen der Sterbenskranken zu beantworten. Die beiden Frauen begeben sich auf eine Reise in die Welt des Erinnerns und Vergessens: Fabienne, um sich mit 39 aufs Sterben vorzubereiten, Nathalie, um sich dem Leben zu stellen. Eine neue Geschichte entsteht für Nathalie, in der Fabienne Spuren hinterlässt.
Äpfel, die wachsen und verfaulen.
Nathalie Oestreicher zu ihrem Film «Apfel und Vulkane»
«Als ich Kinder bekam, habe ich mich am idealisierten Mutter- und Frauenbild gestört. Ich habe viel mit anderen Müttern darüber gesprochen, so auch mit meiner Freundin Fabienne. Sie hatte eine ganz selbstverständliche Haltung zum Muttersein und stellte sich keine tausend Fragen wie ich. Das faszinierte mich. Damals war Fabienne bereits an Brustkrebs erkrankt. Aber wir ahnten nicht, dass sie daran sterben würde. Für mich stand ausser Frage, dass sie eine tragende Protagonistin in meinem Film sein würde. Unsere Auseinandersetzung nahm eine existenzielle Dimension an, als sich herausstellte, dass Fabienne nicht mehr gesund werden würde. Fortan waren ihre Gedanken bei ihren Töchtern: Was würde sie ihnen hinterlassen? Wie würden die Mädchen mit diesem Verlust umgehen? Fabienne fragte mich, wie ich den Verlust meines Vaters als Kind und meines Bruders als Jugendliche erlebt und wie sich deren Tod auf mein Leben ausgewirkt hatte. Ich wollte Fabienne ehrliche, hilfreiche Antworten geben. Doch alles, was mir einfiel, klang für mich wie hundertmal gesagt. Es traf keinen Kern. Ich musste erst Antworten suchen: in mir, aber auch in meinem Umfeld.
Fabienne war dieser Film wichtig. Sie hatte etwas zu sagen, das sie über ihren eigenen Tod hinaus festhalten wollte. Gleichzeitig löste ihre Geschichte in mir ein starkes Echo aus. So wurde klar, dass unser Dialog Teil des Filmes werden musste. Wir spürten, dass unsere persönlichen Geschichten universelle Fragen berühren: Was bleibt von einem Menschen nach seinem Tod? Was bedeutet dessen Verschwinden für die Lebenden? Was wird erinnert? Was vergessen? Was wird im Angesicht des Todes wichtig? So kommt es, dass während des Entstehungsprozesses dieses Filmes ein Apfel für mich an Bedeutung verlor und ein Vulkan nun mehr Raum einnimmt, kleine Dinge, die das grosse Ganze verändert haben. Mit Fabienne ist es nur zu wenigen Drehtagen gekommen. Ich empfand diese Tage als grosses Privileg. Als ich nach dem Dreh mit den Filmaufnahmen nach Hause fuhr, hatte ich das Gefühl, ein grosses Geschenk in Händen zu halten und eine ebenso grosse Verantwortung. Der Film wurde für mich zur Notwendigkeit. Die nächsten Schritte ergaben sich in einer Logik, wie ich sie bisher nicht kannte. Auch wenn es immer wieder eine Herausforderung war, diesen Weg auch wirklich zu gehen. Was bleibt? Noch immer kann ich es nicht genau benennen. Aber ich weiss: Was bleibt, verändert sich ständig und eröffnet neue Sichtweisen aufs Leben. «Allez! On vit! A fond!», sagt Fabienne im Film. Dank Fabienne ist der Film über die Toten, das Sterben und die Erinnerung ein Film über das Leben geworden.»
Nochmals zum Vulkan hinauf.
Fragen vor dem Tod an das Leben
Der stille, besinnliche Film-Essay «Apfel und Vulkan – Auf der Suche nach dem, was bleibt» der Aargauer Filmemacherin Nathalie Oestreicher stellt Fragen, die im Film beantwortet werden, und solche, die wir zu beantworten haben: Was bleibt von einem Menschen nach seinem Tod? Was wird erinnert? Was vergessen? Was wird im Angesicht des Todes wichtig? Was bleibt von einem Menschen nach seinem Tod? Sind es seine Werke? Seine Beziehungen? Die Taten, die guten wie die schlechten? Was bedeutet dessen Verschwinden für die Lebenden? Trauer? Reue? Respekt? Gibt es so etwas wie Verantwortung, obwohl keine Antworten mehr möglich sind? Und persönlich: Was ist für mich angesichts des Todes wichtig? Was kommt danach? Ist damit alles fertig oder folgt noch etwas? Was ist meine Antwort diesem Absoluten gegenüber? So oder ähnlich werden wir vielleicht sinnieren, wenn wir Fabienne und Nathalie zugehört haben.
Fabienne stellt sich ihren Fragen:
Bilder, die offen sind und offenlegen
Meist kommunizieren Filme mit Worten, die eindeutig, seltener mit Bildern, die mehrdeutig sind. «Apfel und Vulkan» ist ein Film, der neben Worten, die Antworten geben, Bilder zeigt, die Fragen stellen.
Bereits die Eingangssequenz, in welcher die Filmemacherin ihre Augen für eine neue Brille testet, stellt solche Fragen. Sie muss eindeutig beschreiben, obwohl ihr mehrdeutig lieber wäre. Muss sie scharf falsch oder unscharf richtig sehen? Die Kurzsichtigkeit, so hören wir sie, hat auch etwas für sich. Während die klare Sicht unentrinnbare Eindeutigkeit vermitteln, eröffnen unscharfe Bilder neue Möglichkeiten der Wahrnehmung.
Nathalie Oestreicher und ihre Familie ziehen um. Eine Veränderung steht an. Ein Umzug ist symbolträchtig: Abbruch und Abschied, Ankommen und Anfangen, Verabschieden und Begrüssen. Eine Handlung, die Veränderung verlangt und bewirkt. Bei Nathalies Umzug soll ein altes Sofa restauriert werden. Dafür muss es aber auseinandergenommen werden. Dabei kommen Dinge aus der Vergangenheit zum Vorschein, die Erinnerungen wecken, jedoch entsorgt werden müssen. Erst so wird Neues, wird Zukunft möglich.
Aufnahmen von faulenden Äpfeln erinnern an Aussagen von Nathalies Vater, Bilder von einem Vulkan an eine frühere Wanderung, die zu einer neuen führen. Jetzt ist es Fabienne, die sich für die Zukunft aufmacht: «Allez! On vit à font! Allez!» Dabei geht es um Vergangenheit und Zukunft, das Leben, eingespannt zwischen Noch-Nicht und Nicht-Mehr. Zu solch persönlichem Sinnieren lädt der Film «Apfel und Vulkan» immer wieder ein, wenn man ihm folgt, weil er ruhig, unaufgeregt und heiter daherkommt.
Mir scheint der Film ein Stück Einübung in «das Leben zum Tod». Dafür gebührt den Mitwirkenden, auch den Kameraleuten Séverine Barde und Milivoj Ivkovic, Dank. (Ein persönliches Dankeschön auch meinem Kollegen Johannes Binotto, der mich mit seiner Besprechung zu meinen hier vorgebrachten Überlegungen angeregt hat.) Das Schlussbild, eine SMS von Fabienne, zeigt einen Baum, nochmals in einer existenziellen, nicht bloss optischen Unschärfe, die offen ist und offenlegt.
Titelbild: Fabienne Roth Duss (1975–2014)
Verleih: Nathalie Oestreicher, Produktion: 2017, Länge: 81 min, Verleih: cineworx