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Eine literarische Wunderkiste

Unter dem Titel «Gerade gestern» beschreibt Martin Meyer einen Flohmarkt vielfältiger Erinnerungen. Dem rasch Gelesenwerden widersetzt sich das Buch hartnäckig.

Den Autor vorstellen zu wollen, hiesse Wasser in sämtliche Fliessgewässer der Schweiz zu schütten. 1951 in Zürich geboren, sattelfest in Philosophie, Literatur und Geschichte, stiess er 1974 zum Feuilleton der Neuen Zürcher Zeitung, das er von 1992 bis 2015 erfolgreich leitete. Während dieser Zeit schrieb er auch mehrere Bücher.

Ein Buch, das sich dem Rasch-gelesen-werden verweigert: Martin Meyers «Gerade gestern». (Hanser Verlag)

Im Klappentext des Buches lesen wir: «Es gibt die grosse historische Zäsur, üblicherweise aber ändern sich die Zeiten schleichend. Diesem allmählichen Verschwinden des Gewohnten spürt Martin Meyer nach, indem er sich daran erinnert, was den Alltag vor zehn, zwanzig oder dreissig Jahren ausmachte.»

Ordnung muss sein

Dem Buch ist nicht beizukommen. Das darf ich mir als Juristin nicht sagen. Denn die Jurisprudenz befähigt ja dazu, der Fülle des Seins, wie auch immer geartet, beizukommen.

Indem sie diese in Regeln fasst, ordnet. Ordnung allein heisst natürlich noch gar nichts. Aber auch ein Abfallhaufen ist ordentlich immer noch akzeptabler als unordentlich.

Um eine Struktur zu finden, zählte ich nach, wieviele Kapitel denn dieses Buch umfasst. Es sind fast neunzig. Aber das Buch präsentiert sich doch im Umfang recht bescheiden, handlich. Also, wieviele Seiten umfasst ein Kapitel? Zwei bis drei bis vier. Angebrochene Seiten werden als Ganze gezählt. Nur ein einziges Kapitel ist fünf Seiten lang. Es handelt vom Krokodil. Von jener Lokomotive, gebaut im Jahre 1939, welche für das Ziehen schwerer Güterzüge bestimmt war.

Lange Geschichte, kurz erzählt

Wer je im Verkehrshaus Luzern das Krokodil besichtigt hat, wundert sich, wie fünf Seiten für die Beschreibung ausreichen. Insbesondere da in diesem Kapitel zusätzlich boulevardmässig der furchtbare Unfall beschrieben wird, welcher sich am 29. Juli 1941 ereignete. «Boulevardmässig» ist übrigens nicht das richtige Wort. Ich entschuldige mich. Meyer beschreibt die Katastrophe so, wie sie sich nach offenbar unzählig wiederholten Erzählungen in seine Erinnerung eingebrannt hat. Sie ereignete sich ja vor seiner Zeit.

Martin Meyer geht in seinen Erzählungen weit in die Vergangenheit zurück: Der Unfall mit dem «Krokodil» zum Beispiel ereignete sich vor seiner Zeit. (pixabay)

Vieles, was in diesem Buch präsentiert wird, ist mir seltsam vertraut. Obwohl der Autor viel jünger ist als ich. Sein alltägliches Biotop ist der Zürichberg, seine intellektuelle Welt das Feuilleton der NZZ, sein journalistisches Jagdgebiet erstreckt sich über die ganze Welt.

Erinnerungen zum Teilen

Und doch treffe ich immer wieder auf Schilderungen, die gleichsam gemeinsamen Erinnerungen entspringen. Was gab nicht der Fall Deubelbeiss in meiner Jugend zu reden! Wie gut erinnere auch ich mich an die beschriebenen Säle, nicht unbedingt Seminarräume, in denen geraucht und gequalmt wurde, dass es eine Art hatte. Und das Verschicken von Ansichtskarten hatte meine Ferienaufenthalte als lästige Pflicht begleitet.

In diesem Kapitel findet sich auch eine konzentrierte Antwort auf die Frage, wo denn der Autor überall gewesen sei. München, London, Eiffelturm, Matterhorn (am Fuss des…) oder Stazione Milano Centrale werden da genannt. Als Beispiele dafür, dass es in Wirklichkeit an diesen Orten nie so schön war, wie auf den Ansichtskarten vorgegaukelt.

Monokini, Bikini, Trikini?

Fast zu jedem Kapitel könnte ich einen Kommentar beisteuern. Eine Beschreibung erweitern, einer Gefühlslage zustimmen, einen Tatbestand ergänzen. So wäre im Kapitel über den Monokini noch der Trikini zu nennen, der aus Sonnenbrille, Sonnenhut und Sandalen bestand.

In die Welt der aufkommenden Kinofilme tauchte auch ich mit Begeisterung ein. Antonionis «Blow up» ist unvergessen. Bei der Schilderung von Emil Staigers Vorlesungen in Zürich vermisste ich das Wort «Pelzmantelvorlesung», das damals die Runde machte. Nur, auf so triviales Niveau lässt sich der Autor natürlich nicht hinab!

Im Kapitel über das Programmieren durchfuhr es mich wie ein Blitz. Was, diese Schüler lernten kurz vor der Matura programmieren, offensichtlich zu einer Zeit, als ich noch nicht einmal abstimmen gehen konnte? Welche Ungleichheiten beinhaltet doch diese Gleichzeitigkeit!

Das Buch ist raffiniert aufgebaut. Das kann gewollt sein, vielleicht hat es sich einfach so ergeben! Kaum anzunehmen, bei einem so stilsicher Schreibenden. Fast bei jedem Buchtitel fragte ich mich aufs Neue: Was wird hier wirklich beschrieben? Oder, wohin wird die Leserschaft noch geführt?

Eine Neuentdeckung!

Und neben der Frage, wo der Autor denn zeitlebens überall gewesen sei, wird noch eine andere Frage interessant. Wen alles hat er im Laufe seines Lebens getroffen? Diese Schilderungen sind so knapp und meisterhaft, dass bei mir mehrmals der Eindruck entstand, ich sei selbst dabei gewesen.

Als Beispiel sei das Treffen mit Emile M. Cioran (1911-1995) genannt, das unter der Kapitelüberschrift 21, rue de l`Odeon, beschrieben wird und in den frühen achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts stattgefunden hat. Von diesem Schriftsteller hatte ich noch nie gehört. Obwohl ich mich doch während des Studiums von der Romanistenzunft immer wieder hatte aufdatieren lassen. Drei Seiten von Martin Meyer und Cioran lässt mich nicht mehr los!

Diesem Buch ist durch rasches Durchsehen, Durchblättern, Kostproben auswählen nicht beizukommen. Es hilft alles nichts, man muss es ganz geduldig lesen. Dann eröffnet es unglaubliche Welten und Weiten, vom Mikrokosmos zum Makrokosmos und wieder zurück. Kommt ja beim ehemaligen Leiter des NZZ-Feuilletons als Autor nicht ganz unerwartet! Und ich benütze ein Wort, das im Buch mehr als einmal anzutreffen ist: cool!

Martin Meyer: „Gerade gestern“. Carl Hanser Verlag München 2018
ISBN 978-3-446-25843-3

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