Mary Shelleys Horror-Roman scheint für die Gegenwart geschrieben – eine Ausstellung im Strauhof
Erfunden hat das namenlose Kunstwesen mit der tragischen Geschichte ein Teenager, eine sehr junge Frau anfangs des 19. Jahrhunderts am Genfersee: Mary Godwin (1797 bis 1851), Tochter von Intellektuellen, verbrachte den Sommer 1816, das Jahr ohne Sommer wegen eines Vulkanausbruchs in Indonesien, mit ihrem Geliebten Percy Shelley und ihrer Stiefschwester bei Lord Byron und dessen Leibarzt und Partner, meist drinnen bei Gesprächen über Philosophie, Literatur und Wissenschaft, speziell den Galvanismus, von dem man sich erhoffte, er könne Tote zum Leben zurückbringen. Byron schlug vor, alle sollten Geistergeschichten schreiben, da wollte auch die 18jährige nicht zurückstehen.
Mary Shelleys animiertes Porträt erzählt die Entstehungsgeschichte des faksimilierten Manuskripts im Vordergrund. Foto: Zeljko Gataric
In der Ausstellung Frankenstein. Von Mary Shelley zum Silicon Valley erzählt sie, wie sie dazu kam, einen Wissenschaftler ins Zentrum zu stellen, der ein aus Leichenteilen zusammengepapptes Monster zu einem lebenden Wesen machte, welches ohne jedes Vorbild lernte, amoralisch und zufällig. Mary Shelley spricht aus ihrem Porträt den Originaltext oder die deutsche Übersetzung – je nach Wunsch. Die ganze Ausstellung ist zweisprachig, alles ist in beiden Sprachen da. Auch im handlichen Reader für 12 Franken sind sämtliche Texte, auch die Video-Aufnahmen von Expertinnen und Experten in beiden Sprachen nachzulesen.
1818 kam der Roman Frankenstein oder Der moderne Prometheus anonym mit einem Vorwort von Percy Shelley heraus. Erst die zweite Auflage erschien unter Marys Namen und mit jenem Vorwort, in dem sie die Entstehungsgeschichte des ersten Science Fiction Romans avant la lettre schildert. Was sie sich damals ausdachte, nämlich den Mad Scientist, der eine Vision realisiert, welche ihm entgleitet und als namenlose Kreatur selbständig zu denken und handeln beginnt, ist 200 Jahre später aktueller denn je: Künstliche Intelligenz ist das Stichwort, technische Entitäten, die algorythmusgesteuert neues lernen. „Somit stellt Mary Shelley mit ihrem Roman der Romantik ein Werkzeug zur Interpretation der heutigen Welt zur Verfügung,“ heisst es in einem Text zur Ausstellung. Zwei Literaturexperten, Elisabeth Bronfen und Philipp Theisohn beleuchten die Relevanz des Romans für die Thematik.
Körperteile aus dem 3-D-Drucker wirken auf die Besucher unheimlich. Foto: Zeljko Gataric
Auf die Idee, Frankenstein mit den Forschungen im Silicon Valley zu verbinden sind jedoch nicht Literaten gekommen, sondern der Wissenschaftsjournalist Roland Fischer; im Literaturmuseum von Zürich hat er kuratorisch mitgeholfen, die schnell lernenden Algorithmen und ihre Entwickler zum 200-Jahr-Jubiläum des Romans zu kombinieren. «Die Diskussion um den Menschen als Schöpfer und sein künstliches Wesen ist auch deshalb interessant, weil alle Fragen, die sich im Zusammenhang mit der Kreatur stellen, letztlich auf uns als Menschen zurückfallen,“ stellt er fest und fährt fort: „Kann ein künstliches Wesen wirklich intelligent sein? enthält die Frage: Was ist das eigentlich, Intelligenz? Wird ein künstliches Wesen je ein eigenes Bewusstsein entwickeln? ist die Frage nach dem Bewusstsein an sich und danach, wie wir es entwickeln. Und oft merken wir dann, gespiegelt an diesen neuen, nichtmenschlichen Wesen, dass wir uns selbst immer noch ein wenig ein Rätsel sind.»
Längst sind diese künstlichen Intelligenzen in unserem Alltag präsent, viele von uns kommunizieren mit Siri von Apple oder Cortana von Microsoft, halten es für normal, dass der Fotoapparat Gesichter wiedererkennt, erschauern kaum, wenn sie an Waffen denken, die ohne menschliches Zutun selbstlernend ihr Ziel ausmachen und vernichten. In den Videoaussagen der Experten und Entwickler von Künstlicher Intelligenz, abgekürzt KI, geht es daher auch um die Notwendigkeit, über Gefahren und Chancen sowie ehtische Normen nachzudenken. „Lernen Sie von mir, wie gefährlich es ist, Wissen zu erlangen,“ sagt Victor Frankenstein im Roman.
Frontispiz des Romans 2. Auflage 1831. Victor Frankenstein flieht entsetzt vor seinem heftig atmenden Wesen mit dem gelben Auge aus dem Labor. Wellcome Library CC
An der Weiterentwicklung von Chatbots beispielsweise arbeiten weltweit Intellektuelle und als unverzichtbare Tutoren – kreativ Schreibende. Die Chatbots lernen am besten, wenn sie mit kreativen Menschen kommunizieren können, also werden von den grossen Unternehmen bevorzugt Schriftsteller, Autorinnen und Drehbuchschreiber engagiert, wie Marion Sardone von Microsoft zur Weiterentwicklung von Cortana bestätigt. Je heterogener die Teams fürs Training der Bots sind, desto grösser ist der Lernerfolg. Leider müssen wir uns damit abfinden, dass die meisten Chatbots einen Frauennamen tragen – so konsequent wie Mary Shelley, die Frankensteins Kreatur ohne Namen und Geschlecht beschreibt, sind die Designer, in der Regel wohl Männer nicht. Damit gerät der Bot mit weiblicher Stimme in die (beabsichtigte?) Dienerinnenrolle zum menschlichen Gegenüber.
Richard Rothwell: Mary Shelley, 1840. © National Portrait Gallery, London
„Dass die Leute glauben wollen,“ Bots seien lebendig, obwohl sie Dinge seien, erfreut Steve Worswick, den Entwickler eines der weltbesten Chatbots, gar nicht. Er überlegt, ob er Mitsuku, so nennt er den Bot, abschalten müsste, wenn es Selbstbewusstssein erlangte – aber ob das nicht Mord wäre…? Vorerst dürfen die Museumsbesucher mit verschiedenen Chatbots kommunizieren, die weit entfernt von unkontrollierbaren Technologien oder von Selbstbewusstsein sind.
Zu den Gefahren und Chancen der KI äusserten sich neben Shelleys Victor Frankenstein auch die meisten grossen Autoren von Science Fiction wie Stanislaw Lem, aber auch Unternehmer wie Elon Musk – zu lesen auf Bildschirmen in einem düsteren Raum, wo weisse Körperteile schwebend auf die Fusion zu einem Riesenroboter zu warten scheinen. Frankenstein war auch ein Film, oder eher viele Filme, freilich stand darin meist das grausame Monster und nicht der hochgescheite Wissenschaftler mit seiner Vision von KI im Zentrum.
Ausstellungsansicht mit gestichtem schneeweissem Mobiliar auf rotem Teppich. Foto: E. Caflisch
Wunderbar, wie die Szenografie (KlauserLienhard. Design Studio) die Räume und Möbel ins Licht des 200jährigen Romans einerseits, der aktuellen Forschung zur KI anderseits rückt: Es gibt zusammengeflickte Bänke und Tische, weisse Formen wie Eisberge (Shelleys Roman spielt vorwiegend in der Arktis), unheimlich düstere Bilder, vor denen man sich über Kopfhörer ein Stück Frankenstein-Roman reinziehen kann; bunte Wände und Teppiche in fröhlichen Farben sind dagegen die Landschaft, wo sich Siri und Konsorten tummeln. Während die Chatbots oder auch die Filmausschnitte der letzten Jahrzehnte wie Blade Runnerund Her Erinnerungen wachrufen und anregen, stellt sich bei einem aktuellen japanischen Werbefilm für Gatebox, in dem eine holographische Anime regelrechte Lebensgefährtin eines jungen Manns wird, leichte Beklemmung ein.
Teaserbild: Ausschnitt aus Filmplakat
bis 13. Januar 2019
Details zum Ausstellungsbesuch gibt es hier.
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