Heimat war immer. Lässt sie sich definieren?
Das Wahljahr wirft die Schatten voraus. Bürgerliche Parteien versuchen mit dem Begriff «Heimat», Wähler zu gewinnen. Die Neue Zürcher Zeitung widmet dem Heimatbegriff vier lange Aufsätze von prominenten Autoren. Es geht um die Frage: «Was ist das – Heimat?» Redaktor Thomas Ribi leitet die Vorgabe für die Autoren mit dem berühmten Zitat aus den Bekenntnissen des Kirchenvaters Augustinus ein. Der Bischof von Hippo (354-430) soll das Wesen der Zeit erklären. Er sagt, er wisse genau, was Zeit sei, solange ihn niemand danach frage; müsse er aber erklären, was sie sei, merke er, dass er es nicht könne. Es ist nicht überraschend, dass der Redaktor mit seinen Fragen nach der Heimat das Augustinus-Wort zitiert. Alt Bundesrat Kaspar Villiger, der Philosoph Georg Kohler, der Politikwissenschaftler Herfried Münkler und der Journalist Daniel Haas sollen sich der Frage, was Heimat ist, annehmen. Im Grunde kommt dem Wesen der Heimat nur gerade Daniel Haas auf die Spur, in dem er ausführt, dass Heimat eine Herzregion sei.
Warum vermag Augustinus nicht zu erklären, was Zeit ist? Zeit ist mit dem Dasein des Menschen gegeben, so dass jeder Mensch ein eigenes individuelles Zeitgefühl besitzt. Er weiss für sich, was Zeit ist. Wollte er sie für andere genau bestimmen, käme er in Verlegenheit, weil jeder mit Zeit andere Gefühle verbindet. Ähnlich verhält es sich mit der Frage nach der Heimat. Sie ist ihm vertraut. Heimat ist in ihm innewohnend. Er liebt sie in der Sprache, die ihm geläufig ist. Er erkennt sie an Gerüchen und am Geschmack. Sie ist ihm sinnlich gegeben, nicht rational, nicht funktional, nicht nur für einen Moment, sie lässt sich ihm nicht als Identität aufoktroyieren. Sie ist ein Seinsgefühl und wird ähnlich erworben wie die Anschauungskraft. Darum taugt der Heimatbegriff an sich nicht für einen Wahlkampf. Seine Verwendung ist der Versuch, dem Menschen ein Wir-Gefühl zu suggerieren. «Du gehörst zu uns, wenn du die gleichen Gerüche riechst und einen ähnlichen Geschmack hast wie wir.» Heimat, die in einem Prozess erworben wird, bleibt ein Leben lang in der Gegenwart aktualisierbare Vergangenheit. Und manchmal aktualisiert sie sich spontan, ja ungebeten.
Das Andeuten des Doppeladlers durch die Schweizer Spieler Granit Xhaka und Xherdan Schaqiri im siegreichen Spiel Schweiz gegen Serbien kann es verdeutlichen. Die Geste erfasste so plötzlich, so unglaublich frisch und mächtig die beiden Spieler, dass sie bei den meisten Kommentatoren nur auf Unverständnis stiess. Sie wurde als Provokation interpretiert. Sie entstammte einer punktuellen Freude über die gelungenen Tore. Plötzlich war die alte Heimat übermächtig da. Heimat ist nicht als je abgeschlossen zu betrachten. Sie ist und bleibt ein Prozess, der sich in einem bestimmten emotionalen Augenblick entladen kann. In einer affektiven Handlung bricht das Heimatgefühl in Tränen oder im Jubel aus, weil es als ein Ganzes stets gegenwärtig ist, als Vergangenheit in der Gegenwart, die in die Zukunft weist. Heimat ist eine Schöpfung der Seele. Wie soll sie genau bestimmt werden können?
Heimat als ein Seinsgefühl entfaltet sich ähnlich wie das Zeitgefühl im Menschen. Im Laufe der Jahre wird dem Menschen bewusster, was es bedeutet. Zuvor aber hat es sich schon tief im Unbewussten verankert. Als Gefühl wächst und gedeiht es beständig weiter, so wie ein Keim zur Frucht wird, allmählich essbar oder verdorben. Heimat manifestiert sich im gewohnten Umkreis als etwas Selbstverständliches, aber auch als Selbstverständliches in einer fremden Welt. Heimat- und Zeitgefühl sind einfach da. Das scheint der Grund zu sein, warum die Autoren den Fragen, die sich hinter der Hauptfrage des Redaktors «Was ist das – Heimat?» ergeben, zu entgehen versuchen. Sie weichen ihr in nahe Bezirke wie Wir-Gefühl, Identifikation oder in historische Bezüge aus. Was nicht bedeutet, dass ihre Aufsätze uninteressant sind. Daniel Haas, der mehr erzählt als analysiert, kommt der Antwort auf die Spur, wenn er sagt: «Meine Antwort ist: die Region. In der Region wird mein Deutschsein essentiell, das heisst, es lässt sich nicht mehr zerlegen, aufgliedern, umsortieren. In der Region ist alles miteinander verwoben, das Konkrete und das Ideelle, das Materielle und das Metaphysische.» Mit dieser Beschreibung bestätigt er, dass jeder seine eigene Heimat besitzt und warum sie einer klaren Definition widersteht. Ihr anzunähern gelingt nur in Geschichten.
Wer mit dem Begriff Heimat politisch operiert, schaut am Wesen des Menschen vorbei, denn Heimat gehört zu den intimsten Gefühlen des Menschen, die unglaublich viele individuelle, sinnliche und geistige, materielle und metaphysische Elemente aufweist. Alle angestauten und in langer Kindheit gesammelten Triebkräfte des Menschen brechen aus, wenn das Heimatgefühl in Frage steht. Es kann zu Demonstrationen und emotionalen Ausbrüchen kommen. Wie sollten junge Menschen im Triumph des Sieges ihre tiefsten Gefühle unterdrücken können? Warum gibt es bei Siegesfeiern Tränen, wenn die Nationalhymne erklingt? Spontane Gefühle, weil das vergangen Erlebte stets gegenwärtig bleibt, drücken sich darin aus. Italiener, Kosovoalbaner, Deutsche in der Schweiz, Schweizer in Amerika oder in Schweden können dem Heimatgefühl nicht entgehen.