StartseiteMagazinKulturBegegnungen im Laufe eines langen Lebens

Begegnungen im Laufe eines langen Lebens

Keine Autobiografie, keine Memoiren im üblichen Sinne, Andrea Camilleri stellt uns Menschen vor, die er in Erinnerung behalten wird.

Der sizilianische Commissario Montalbano ist uns Leserinnen und Lesern wohl ein Begriff. Aber wussten Sie, dass sein Schöpfer Andrea Camilleri neben vielen Romanen – nicht nur Krimis – auch fürs Theater geschrieben hat, ausserdem Regie geführt und an der Accademia Silvio d’Amico unterrichtet hat. Schreiben gehörte seit seiner frühesten Jugend zu seinem Alltag. Seine ersten Veröffentlichungen waren ein paar Gedichte in einer Anthologie, von Giuseppe Ungaretti zusammengestellt. Wenn man die Liste seiner Veröffentlichungen anschaut, wird klar, dass Camilleris Schaffensdrang wohl bis ins hohe Alter nicht zu bremsen ist.

Seine Erinnerungen niederzuschreiben, scheint den gebürtigen Sizilianer allerdings nicht sonderlich gereizt zu haben – obwohl er mit seinen 93 Jahren den grössten Teil des unruhigen 20. Jahrhunderts erlebt hat. Das schmale Buch «Gewisse Momente» handelt von Erinnerungen an Menschen, die Camilleri auf die eine oder andere Art beeindruckt haben. «Die Männer, die Frauen und die Bücher waren Funken, Blitze, Momente grosser Klarheit für mich», schreibt er. Er wolle ihnen mit diesem Buch danken.

Leben, um zu schreiben

Was nun vorliegt, öffnet einen weiten Blick auf Camilleris Jugend im faschistischen Sizilien, auf seine leicht chaotischen Studienjahre, vor allem aber auf viele beeindruckende Menschen. Um es vorwegzunehmen: Spannend ist nicht nur, über Menschen zu lesen, die für den Autor von Bedeutung waren, sondern durch die Erzählungen einen Kosmos von unterschiedlichsten Charakteren vorgeführt zu bekommen. Menschen in ihrer Eigenart vorzustellen, sehr lebendig, doch knapp und konkret, darin liegt eine Stärke dieses Schriftstellers. Obwohl wir im deutschsprachigen Raum längst nicht alle Personen kennen, fühlen wir uns wie Gäste bei Camilleri, der sie uns freundschaftlich, respektvoll, witzig und zuweilen mit der nötigen Distanz vorstellt. Durch sie lernen wir den Autor kennen.

Andrea Camilleri:  © Basso Cannarsa /Kindler Verlag

So verschieden die Menschen sind, die Camilleri schildert, so unterschiedlich sind die Situationen, in denen der Autor ihnen begegnet. In den Zeiten härtester Kriegswirren wechselten im Gymnasium jeden Monat die Lehrer – die Aushilfen waren für die Klasse immer ein neues Abenteuer. Darüber schreibt Camilleri zunächst ausführlich, bis er auf Maria Cosenza zu sprechen kommt, mit ihren 20 Jahren kaum älter als die Schüler. Sie wohnte in Porto Empedocle nicht weit entfernt vom 18-jährigen Andrea im Haus seiner Verwandten. Dort hatten sich die beiden angefreundet, zusammen Eis gegessen, Maria hatte für Andrea sogar gekocht. Eines Abends, als sie sich immer näherkamen, erzählte Maria, dass sie vom kommenden Tag an in seiner Klasse Griechisch unterrichten würde. Andrea meinte, nun könne er endlich mit guten Noten rechnen, aber falsch: «In der Schule wirst Du für mich ein Schüler sein wie jeder andere.» Das bedeutete, dass unser Autor in dieser Zeit nicht über ein ‹ungenügend› hinauskam.

Sizilien zwischen den Kriegsparteien

Sich an solche Episoden zu erinnern, lässt Camilleri wohl schmunzeln, denke ich beim Lesen, obwohl es zuweilen ziemlich dramatisch wurde. So die Erlebnisse im Herbst 1943, die ihn schliesslich zu dem Dieb Pino Trupia führten. Camilleri wollte mit einem Freund zusammen eine Zeitung herausgeben, die erste demokratische nach dem Zusammenbruch des Faschismus. Sie erhielten als ‹Redaktion› eine Wohnung, die zuvor faschistischen Studenten gehört hatte. In diesen Tagen fehlte es an klaren Linien. So wurde diese Wohnung von den Amerikanern für verdächtig gehalten und durchsucht – und sie fanden ein paar Waffen. Daraufhin wurden die beiden jungen Redakteure verhaftet und mussten alle Härten eines Verhörs von vermeintlichen verkappten Faschisten erdulden. Vollkommen mutlos kam Andrea abends in eine Gefängniszelle, in der schon Pino Trupia sass. Auf den eingeschüchterten Andrea wirkte dessen Äusseres erschreckend, bald merkte er jedoch, dass er in diesem kleinen Gauner einen fürsorglichen Helfer gefunden hatte, einen «Schutzengel für eine Nacht».

Das Theater – Camilleris Leidenschaft

Jeder der kurzen Texte breitet einen anderen Aspekt aus Camilleris Leben aus, jedes Mal werden wir überrascht, was für Wendungen sein Weg genommen hat. Von Jugend an lag ihm das Theater am Herzen. Im Kapitel über Virgilio Marchi, Professor für Bühnen- und Kostümbildnerei an der Accademia nazionale d’arte drammatica, wo Camilleri viel später selbst unterrichten würde, lesen wir, wie das Ende seines ersten Studienjahres fast in bitterem Scheitern geendet hätte, wenn er nicht von Professor Marchi bestärkt worden wäre, den eingeschlagenen Weg weiter zu verfolgen.

Wir lesen auch von Begegnungen mit berühmten Persönlichkeiten, Antonio Tabucchi, dem Theaterautor, der auch im deutschsprachigen Raum aufgeführt wurde, mit Elio Vittorini, der Camilleri zu einem Spaziergang einlud, um wieder einmal mit einem echten Sizilianer zu plaudern, mit dem versponnenen Carlo Emilio Gadda, dessen Nachfolger als Radioredakteur Camilleri wurde, oder mit Pier Paolo Pasolini, mit dem er kurz vor dessen Tod in Streit geriet, zunächst über den Kommunismus, nachher über ein Regieprojekt.

Andrea Camilleri betont, dass seine Sammlung unvollständig ist, lückenhaft bleiben muss. Ausgewählt hat er diejenigen, die ihm schliesslich «zu grösserer Helligkeit in meinem Geist» verholfen haben, wie er im Vorwort schreibt. Ob wir die Portraitierten kennen oder nicht, spielt keine Rolle. Wir begegnen einer vielfältigen Reihe interessanter Menschen.

 

Andrea Camilleri, Gewisse Momente (Certi Momenti). Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki. Kindler Verlag 2018; 176 Seiten; auch als E-Book erhältlich. ISBN/GTIN978-3-463-40680-0

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