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Nur zwölf Stunden für Alles in Allem

Kurt Guggenheims Zürich-Roman wird Gegenstand einer szenischen Reise, während der eine unbekannte Stadt entdeckt werden kann

Alle Folgen einer Staffel oder auch einer ganzen Serie in einem Aufwasch schauen, das mögen viele von uns, seit einschlägige Streamingdienste oder auch mal der Fernsehsender Arte es anbieten. Nun gibt es die Fortsetzungsgeschichte über längere Zeiträume, quasi eine Soapopera, auch auf dem Theater: Acht Spielorte zwischen Wollishofen und Affoltern, Schlieren und dem Seefeld führen in einer Zeitreise von zwölf Stunden das Publikum (mehrere Dutzend dürfen jeweils mit) in die Szenerie des Romans Alles in Allem von Kurt Guggenheim. In vier Bänden zwischen 1952 und 1955 publiziert, beschreibt er die Entwicklung der Stadt vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des zweiten Weltkriegs.

Das Team der Theaterreise beim Fototermin zwischen der Probenarbeit. © Jojo Kunz

Kurt Guggenheims Kernthese: Die Andersartigkeit ertragen lernen führt zu Dynamik und Kraft, welche helfen, komplexe Gegenwartsanforderungen besser zu bewältigen. Heimat bedeutet aus diesem Blickwinkel nicht Abschottung. Alles in Allem wird somit Gegenstück zu unserer Zeit mit überbetonter Individualität, gnadenlosem Einzelkampf und unbedingter Leistungsbereitschaft. Der Text besticht durch seine Aktualität, weil er exemplarisch das Zusammenleben und aneinander Wachsen unterschiedlicher Kulturen, Sprachen, Moralvorstellungen und Religionen zeigt. Der Schriftsteller erhielt für den Epochen-Roman 1955 den Literaturpreis der Stadt Zürich.

Kurt Guggenheim um 1950. Courtesy Charles Linsmayer © C. Linsmayer

Im Zentrum der Geschichten stehen Aaron Reiss, jüdischer Kaufmannssohn und angehender Schriftsteller – ein alter Ego Guggenheims, der sich erst frei schreiben konnte, als das Unternehmen seines Vaters Konkurs ging –, dessen Kollegen Joseph Gidionovic und Karl Gebhart, anderseits gibt es die Kreise um den begüterten Antisemiten Gustav Meng, der mit seiner Familie aus Deutschland immigrierte und in einer der Villen in Seenähe residiert. Drum herum gruppieren sich Figuren, die zum Teil Vorbilder in der Geschichte haben, beispielsweise den sozialistischen Arzt Fritz Brupbacher, und all jene Charaktere, die von Guggenheim für sein Panorama zürcherischer Bewohner und Besucher geschaffen wurden. Guggenheim stellt in dem Generationenroman anhand der Stadt Zürich und weit über hundert Figuren, dar, wie sich Integration und Assimilation vollziehen und wie Menschen unterschiedlichster Herkunft in einem Gemeinwesen heimisch werden. Es entwickelt und verändert sich gemäss politischen Entwicklungen, Weltanschauungen und Einflüssen von aussen, tritt in permanentem Wandel als Einheit in der Vielheit, eben als Alles in Allem in Erscheinung.

Hannes Binder: Stadtquerung. © Hannes Binder

Dieses Panorama eines vergangenen, aber zugleich gültigen Stadtlebens hat Peter Brunner, bis 2018 langjähriger Leiter des Sogar-Theaters zusammen mit Wolfgang Beuschel zu einer Spielfassung kondensiert. Brunner pflegt die Adaptation literarischer Texte zu Theatervorlagen seit langem als künstlerischen Schwerpunkt. Aus tausend Seiten Prosa sind nun fast hundert Szenen für 17 Schauspielerinnen und Schauspieler, umgesetzt von verschiedenen Regisseuren und Künstlern, aufgeführt an acht Schauplätzen entstanden. Frühzeitig bat Brunner den Künstler Hannes Binder um Vorschläge für Bühnenbilder. Die schwarzweissen Schraffurzeichnungen – absolut eindrücklich, wie bei diesem Zeichner nicht anders zu erwarten war – werden in einer Diaschau im Rahmen der Theaterreise gezeigt und sind in die einbändige Neuauflage des Romans Alles in Allem als Illustrationen aufgenommen worden.

Hannes Binder: Geschichte der Stimmungen. © Hannes Binder

Guggenheims grosser Epochenroman in dem das Miteinander unterschiedlicher Kulturen, Ideologien, Religionen nicht zum Auseinanderdriften, sondern zu gegenseitigem Verstehen und Respektieren führt, soll – so die Theatermacher – durchaus als Gegenentwurf zum wiedererstarkten Populismus und Ultranationalismus verstanden werden können.

Die allerletzten Endproben laufen, am Samstag geht es los. Mehrere der Schauspielerinnen und Regisseure sind seit 1998 Weggefährten von Peter Brunner, haben im Sogar-Theater Aufführungen mitverantwortet. Nun ist die Stadt, sind spezielle Orte, ihre Bühne: Park Villa Patumbah, Gaswerk Schlieren mit Belltree Tower, Gasimuseum, Sulzer Dampfmaschine und Gasometer, Kaserne Zürich mit Waffensaal und ehemaliger Militärkantine, Zehntenhaus Zürich-Affoltern, Kaverne im Seewasserwerk Moos und Kulturmarkt. Damit eröffnen sich neue Perspektiven auf die Stadt und ihre Entwicklung.

Probe im Gaswerk Schlieren. © Katja Langenbach

Die Reise durch das heutige Zürich schafft Zugehörigkeit. Zunächst beim Publikum durch das gemeinsame Tageserlebnis einer zufälligen Gruppe. Dann über die Schauspielerinnen und Künstler, die die Geschichte vorwärtstreiben und die Zuschauerinnen und Zuschauer dabei eine Weile lang begleiten. Während eines ganzen Tages tauchen die Besucher über das Romanpersonal in die Vielfältigkeit verschiedener Zürcher Familien, Kulturen, Architekturen und Gesellschaften ein. Das Alles-in-Allem-Projekt will so durch Bewegung und Ortswechsel dem Publikum ermöglichen, den Stadtraum in seiner Vielfalt wahrzunehmen, Impulse für die Gegenwart auf- und mit nachhause zu nehmen: Um die Ecke wartet eine unbekannte Stadt.

Sämtliche Aufführungen sind ausverkauft. Die Warteliste sei ebenfalls überfüllt, und selbst wenn die Hoffnung zuletzt stirbt, gäbe es noch eine Lösung, heisst es bei den Machern: sich als helfende Hand hier oder dort einschreiben im Formular auf der Website.

Die Alternative indessen bietet sich mit dem Lesen des Romans an. Der Reprint, eingeleitet vom Literaturkenner Charles Linsmayer und mit 28 Illustrationen von Hannes Binder ausgestattet ist nicht ausverkauft, sondern jederzeit im Buchhandel zu haben. Reisen lässt sich bekanntlich auch mit Lektüren.

 

Teaserbild: Hannes Binder: Passage
Theaterreise: Alles in Allem 2019
Kurt Guggenheim: Alles in Allem, 1216 Seiten, Zürich, Th. Gut, 2019

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