Den Sommer habe ich, wie jedes Jahr, in Italien verbracht. War es zu Beginn recht heiss, täglich über 40 Grad, normalisierte sich das Wetter in den letzten drei Wochen auf wunderbare Weise: Am Morgen zeigte das Thermometer knapp 18, am Mittag gut 30 und am Abend so zwischen 24 und 29 Grad bei einem ganz leichten Säuseln eines sanften Windes.
Es liess sich leben, man konnte die Seele baumeln lassen. Kommt hinzu, dass sich der tagtägliche Gang ins nächste Dorf jetzt endgültig erübrigt hat. Das Internet ist jetzt ganz zuverlässig, ganz schnell geworden. Die Zeitungen lassen sich so unter dem Baum ab dem Tablet lesen. Was fehlt ist das Rascheln, ist das Blättern, ist die Vertrautheit. Doch nach ein paar Tagen macht sich deutlich bemerkbar, was fehlt: Der Gang in die Bar im nahen Greve oder in Radda in Chianti, der Gang an den Zeitungstisch, das vertraute Bild: ältere Männer, die ganz vertieft in den Zeitungen lesen, die ab und zu den anderen auf eine Schlagzeile aufmerksam machen, zu politisieren beginnen.
So bleibt in der Abgeschiedenheit vieles verborgen, was zurzeit in Italien abläuft. Natürlich sieht man die Migranten, vor allem vor den Geschäften, vor jedem inCoop-Laden, die ihre Hilfe beim Verstauen des Einkaufs ins Auto anbieten. Ein Angebot, das selbst von den Einheimischen in Anspruch genommen wird. Natürlich ist die Prostitution von schwarzen Migrantinnen an den Ausfallstrassen der Städte sichtbar, nicht zu übersehen. Doch Migranten, die Matteo Salvini, der italienische Innenminister und starke Mann der Regierung, am liebsten irgendwie entsorgen möchte, gehen unter in den Städten Florenz, Siena beispielsweise. Hier dominieren die Touristen, US-Amerikaner, Asiaten, auch Europäer, vor allem Deutsche, Niederländer und natürlich – unverkennbar – auch Schweizer Familien. Normalität im Hochsommer. Von der grossen Regierungskrise ist nichts zu spüren, keine erhöhte Polizeipräsenz, nicht einmal Affichen, nicht einmal Graffitis, die auf den aufstrebenden Macho Salvini hinweisen würden. Auch wenn die Zeitungen voll sind von seinen Auftritten in Badehose an den Küsten im Süden des Landes, wo er „Italien den Italienern“ verspricht, wo sie ja doch gerade an den Küsten das meiste Geld mit den Ausländern verdienen. Wo er voller Stolz seinen Bauch zeigt und sich tausendfach ablichten lässt. Er macht Wahlkampf. Und so lässt er nichts unversucht, um sich in der jetzigen Regierungskrise durchzusetzen. Er will definitiv Neuwahlen.
Er erinnert darin an einen anderen Italiener, an Matteo Renzi, der als Ministerpräsident zwischen 2014 und 2016 fest im Sattel sass, der bei den vorletzten Europawahlen 40 % der Wähler hinter sich wusste, der zu hoch pokerte. Im Dezember 2016 wollte er eine umfassende Verfassungsreform in einer Volksabstimmung durchsetzen und scheiterte kläglich. Es blieb ihm nur der Rücktritt.
Matteo Salvini sieht sich bei Umfragen jetzt auch nahezu bei 40 Prozent. Und das macht wohl trunken vor Selbstüberschätzung. Anscheinend wollen viele Italienerinnen und Italiener vor allem Eines: einen lauten, einen selbstbewussten Mann, kommt er von rechts wie Salivini, kommt er von links wie Renzi, egal.
Die politische Herkunft ist nicht entscheidend. Entscheidend ist, dass der Mann intuitiv erkennt, was die Wählerschaft bedrängt. 2015 war die Immigration in Italien weit höher als jetzt. Renzi ging damit um. Europa war in dieser Frage noch nicht so gespalten wie jetzt. Heute ist die Frage in Italien aber weit virulenter und Salvini heizt die Stimmung jeden Tag von Neuem an. Das beschert ihm die Umfragewerte von den erwähnten nahezu 40%. Und so verliert er den Boden unter den Füssen, wie damals Renzi. Gleicher Vorname, fast gleiches Alter (Renzi 44, Salvini 46 Jahre alt). Jetzt hat sich auch Renzi wieder gemeldet. Er will mit der Fünf-Sterne-Bewegung, dem jetzigen Koalitionspartner Salvinis, eine neue Regierung bilden. Folgt auf Matteo Matteo?
In Italien ist alles möglich. Selbst im beschaulichen Sommer, selbst während des in Italien heiligen Ferragosto.