Erziehung am Limit

Mit dem Spielfilm «Systemsprenger» führt uns Nora Fingscheidt an die Grenzen dessen, was Erziehung kann und was nicht. Ein Film, der einfährt, wehtut, herausfordert. – Der Film gewann im «Focus Schweiz, Deutschland, Österreich»-Wettbewerb des diesjährigen ZFFs das Goldene Auge und ebensfalls den Preis der Zürcher Kirchen.

Pflegefamilie, Wohngruppe, Sonderschule: Egal, wo Bernadette «Benni» hinkommt, sie fliegt wieder raus. Die wilde Neunjährige ist das, was man im Jugendamt einen «Systemsprenger» nennt. Dabei will Benni nur eines: Liebe, Geborgenheit und wieder bei Mama wohnen. Doch Bianca ist von ihrer unberechenbaren Tochter schlicht und einfach überfordert. Als es keinen Platz mehr für Benni zu geben scheint und keine Lösung mehr in Sicht ist, versucht der Anti-Gewalt-Trainer Micha, sie aus der Spirale von Wut und Aggression zu befreien. Nora Fingscheidts Spielfilmdebüt «Systemsprenger» lief 2019 im Wettbewerb der Berlinale und wurde dort mit dem Silbernen Bären (Alfred-Bauer-Preis) ausgezeichnet. – Siehe auch den Dokumentarfilm «Ohne diese Welt» von Nora Fingscheidt.

Frau Bafané, die Sozialpädagogin, mit Benni.

Nora Fingscheidt zu ihrem Film «Systemsprenger» 

«Mich faszinieren Kinder, die nicht zu bändigen sind und die vor Lebensenergie nur so strotzen. Kinder, die mit voller Wucht unsere Vorstellung von einem liebenswerten und „systemkonformen“ Kind erschüttern. Als wir vor sechs Jahren einen Dokumentarfilm über ein Heim für wohnungslose Frauen drehten, hörte ich zum ersten Mal den inoffiziellen, aber in der Jugendhilfe gängigen Begriff „Systemsprenger“. Denn die Bewohnerin, die an diesem Tag einzog, war erst 14 Jahre alt. Keine Institution der Jugendhilfe wollte sie mehr aufnehmen.

Es folgte eine lange Zeit der Recherche und des Schreibens, ein Prozess, der mich immer wieder an meine Grenzen brachte – und doch bereicherte. „Systemsprenger“ sind Kinder mit unglaublicher Kraft und Ausdauer. Aber sie sind tragische Figuren, weil sie so früh schon Schlimmes erleben müssen und ihre Chancen für die Zukunft aufs Spiel setzen. Wie viel Energie braucht jemand, um pädagogisch ausgebildete Erwachsene immer wieder in die Verzweiflung zu treiben? Was, wenn es möglich wäre, diese Energie konstruktiv umzuleiten? Und was ist das eigentlich für ein „System“, das am Ende ja auch aus Menschen besteht, die helfen wollen, aber immer wieder vor Hindernisse gestellt werden?

Nicht selten begegnet die restliche Gesellschaft den „Systemsprengern“ erst später, wenn sie als junge Erwachsene gewalttätig werden. Dann werden sie schnell als „Täter“ verurteilt. Allerdings bringt uns die Grenze, die wir zwischen Tätern und Opfern so gerne ziehen, nicht weiter. Jedenfalls nicht, wenn wir den Kindern helfen wollen.

Wir haben diesen Film gemacht, um Verständnis für Kinder wie Benni zu wecken. Der Strudel aus Wohnorten, der dauerhafte Wechsel von Bezugspersonen. Wie soll ein Kind, dessen einzige Kontinuität der Wechsel ist, irgendwo Halt finden? Gleichzeitig reisst Benni uns mit in die wilde und fantasievolle Welt eines Kindes, das um die Liebe seiner Mutter kämpft. Der Film soll trotz aller Tragik Bennis Lebensenergie widerspiegeln, ihren Humor und ihre Sehnsucht, und dabei im besten Fall ein mit allen Sinnen spürbares Kinoerlebnis schaffen. Bennis Verhalten mag schockieren, doch die Zuschauer sollen sie lieben und um sie fürchten. Gewalt von Kindern ist ein Hilfeschrei. Immer.»

Michael Heller, der Anti-Gewalt-Trainer

Aus einem Interview mit Nora Fingscheidt 

Benni, die Heldin aus «Systemsprenger», ist neun Jahre alt. Wie ist es Ihnen mit neun ergangen?

Eigentlich ganz gut. Ich war auch ein wildes Kind, hatte aber das Glück, in einem familiären Umfeld aufzuwachsen, das meine Energie aufgefangen hat.

Das ist Benni nicht vergönnt. Sie muss als sogenannter «Problemfall» ständig die Bezugspersonen wechseln und Entscheidungen aushalten, die andere für sie treffen. Ist dieses Thema zu Ihnen gekommen, oder haben Sie es gesucht?

Es ist zu mir gekommen, ja, das kann man so sagen. Ich wollte schon lange Zeit eine Geschichte über ein wütendes, extrem energetisches Mädchen machen. Die Idee hat mich verfolgt, nur fehlte mir immer der Aufhänger. Als ich vor sechs Jahren einen Dokumentarfilm über ein Heim für wohnungslose Frauen in Stuttgart drehte, war dieser Moment gekommen.

Beschreiben Sie bitte diesen Moment.

Dort zog eines Tages ein 14-jähriges Mädchen ein. Das hat mich schockiert. Ich fragte nach und hörte zum ersten Mal den Begriff «Systemsprenger». So werden Kinder wie Benni, die überall rausfliegen, inoffiziell bezeichnet.

«Systemsprenger» ist ein faszinierendes Wort.

Ja, ungemein kraftvoll und radikal. Mir ist aber bewusst, dass er als Filmtitel polarisieren wird. Denn es geht weder um Hacker noch Anti-G20-Demonstranten. Selbst in der Fachwelt ist er sehr umstritten, weil er den Kern der Sache nicht recht trifft. Diese Kinder und Jugendlichen zerstören kein funktionierendes System, es sind gescheiterte Systemprozesse, die dazu führen, dass sie nirgendwo ausgehalten und immer wieder neu aus ihrer Bahn geworfen werden. Man versucht also, «Systemsprenger» als Begriff zu vermeiden. Trotzdem gibt es wenig wirklich gute Alternativen.

Warum ist Benni gerade neun?

Es war eine bewusste Entscheidung, genau wie jene, ein Mädchen zu zeigen und keinen Jungen, die als «Systemsprenger» in der Überzahl sind. Mit neun Lebensjahren können Kinder im gewissen Masse bewusst handeln und auch manipulieren. Trotzdem sollte man um Benni fürchten. Wir wollten sie von Klischees und vorschnellen Kategorisierungen fernhalten, etwa, dass man ihr pubertäre Rebellion unterstellt, nur weil sie vielleicht 14 ist. Auch sollte Benni nicht in einer rauen Grossstadt leben, um sie nicht in die nächste Schublade zu stecken und die Thematik dadurch zu vereinfachen.

Geht es auch um einen gesellschaftlichen Diskurs?

Ja, um einen Diskurs über Gewalt und Aggression, die ja vor allem bei Kindern oft aus Angst entstehen, und unseren Umgang damit. Darum, was hinter den auch nachvollziehbaren Impulsen steckt, diese Kinder wegsperren zu wollen, weil andere zu schützen sind. Wer von uns hat auf dem Schirm, dass es noch immer Kinderheime gibt und Kinderpsychiatrien, die überall übervoll sind und lange Wartelisten haben? Es ist eher ein gesellschaftliches Randthema in Deutschland. Es geht aber auch darum, über all die Betreuerinnen und Betreuer nachzudenken, die in ihrem harten und nicht im nötigen Mass geschätzten Beruf oft extrem überlastet sind.

Sind Kinder wie Benni Verlorene?

Ich glaube, dass sie es besonders schwer haben, dabei aber oftmals so beeindruckend sind und trotzdem einfach unsichtbar. Das ändert sich erst, wenn sie vielleicht 16 oder 18 sind und Situationen mit ihnen eskalieren. Die wirklich krassen Geschichten, die diese Jugendlichen als Kinder hinter sich haben, als sie wirklich bedürftig waren, liegen im Schatten. Es gibt aber auch immer wieder Einzelfälle, in denen Kinder die Kurve kriegen.

Bennis Mutter bekommt wenige, aber intensive und schmerzvolle Szenen. Waren sie in der Umsetzung besonders heikel?

Sie glichen einem Grenzgang. Denn wir erzählen eine Mutter, die ihr Kind liebt und ihm gleichzeitig schadet, die hilflos ist und überfordert, sanft, schwach und gleichzeitig hart. So etwas habe ich in der Recherche oft erlebt: Mütter mit fünf Kindern, die man ihnen weggenommen hat, und trotzdem bekommen sie noch ein sechstes, siebentes, achtes. Man muss sehr genau auf diese Frauen blicken, um zu verstehen, was hinter ihren Entscheidungen steckt. Es geht darum, sie nicht zu verraten, sondern ihnen ihre Würde zu lassen. Als Kind ist man seinen Eltern ausgeliefert, unabhängig davon, in welches Elternhaus man hineingeboren wird. Nahezu alle Kinder wie Benni wollen zu Mama und Papa zurück, selbst wenn sie dort Missbrauch und krasse Gewalt erlebt haben. Das macht uns Erwachsene oft sprachlos, aber es ist ein Fakt.

Regie: Nora Fingscheidt, Produktion: 2019, Länge: 118 min, Verleih: cineworx

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