Die Theaterfrauen Liliane Koch und Maude Hélène Vuilleumier sind zusammen seit 2012 das Theater-Kollektiv «der grosse tyrann». Im Grenzbereich zwischen Politik, Kunst und feministischen Themen setzen sie sich mit weiblichen Ikonen unserer Gesellschaft auseinander.
Im aktuellen Projekt von «der grosse tyrann» steht Marie Kondo im Fokus. Sie ist eine in Amerika lebende japanische Ordnungsberaterin und Bestsellerautorin, die mit Beratungen und Kursen die Menschen lehrt, nach ihrer «KonMari-Methode» richtig aufzuräumen, um dabei das Glück zu erlangen.
Liliane Koch, Dramaturgin, Theatermacherin und Performancekünstlerin und Maude Hélène Vuilleumier, Kostüm- und Bühnenbildnerin und Performerin beschäftigten sich 2014 in «Made of Steele» mit der Protagonistin Anastasia Steele aus «Fifty Shades of Grey» in einem abendfüllenden Programm, 2018 in «Ave Maria» mit der Jungfrau Maria. Beides sind Frauenfiguren, mit denen sie als Feministinnen Mühe haben, sich zu identifizieren.
Liliane Koch (lks) und Maude Hélène Vuilleumier (rts). Foto: rv
Seniorweb: Was hat Sie dazu gebracht, Marie Kondo als Thema für ein Theaterstück auszuwählen?
Koch: Wir suchen nicht schwärmerisch nach bewunderten Persönlichkeiten, sondern nach solchen, die Reibung erzeugen. Marie Kondo hilft Menschen, ihre unordentliche Wohnung aufzuräumen, weil sie davon ausgeht, dass nur Ordnung zum Glücklichsein führt. Da wir beide Chaotinnen sind, reizt es uns, die Methode und Theorie dieser erfolgreichen Japanerin kritisch zu hinterfragen.
Vuilleumier: Zum Chaos habe ich eine Art Hass-Liebe. Als kreativer Mensch brauche ich Dinge um mich herum, aus denen ich Neues schaffen kann. Mir fällt es schwer, Dinge wegzuschmeissen, weil ich die ja brauchen könnte für ein nächstes Bühnenbild oder Theaterkostüm. In der Freien Szene sind Projekte nicht gut bezahlt, so hilft eine persönliche Sammlung an Gegenständen, die Produktionskosten tief zu halten.
Koch: Das berühmte leere Blatt ist eine Fiktion. Der Schriftsteller bzw. die Schriftstellerin hat viele Geschichten, Erfahrungen und Gelebtes in sich, woraus er oder sie schöpfen kann. Die Gesellschaft urteilt Ordnung ist gut, Chaos ist schlecht. Wer nicht ordentlich ist, hat einen Mangel, was einem schon als Kind mit Zimmer aufräumen eingeprägt wird.
Marie Kondo, 2016. Foto: wikimedia commons.
Wie funktioniert die Methode von Marie Kondo?
Koch: In ihrer KonMari-Methode nimmt man jedes Objekt, das man besitzt – Kleider, Geschirr, Bücher – einzeln in die Hand, hebt es hoch und fragt does it spark joy. Nur was Freude bereitet, behält man, den Rest sortiert man aus. Ich sehe diesen Ansatz kritisch, als Diktat der Positivität, was sehr anstrengend sein kann im Sinne der Selbstoptimierung. Ich darf doch auch einmal melancholisch auf meinem Sofa sitzen.
Vuilleumier: Zudem kann ein Objekt an einem Tag keine Freude und am nächsten Tag Freude machen, das ist eine subjektive Momentaufnahme.
Neben ihren Bestsellern und Seminaren gibt es jetzt auch eine Netflix-Serie über ihre Methode. Als gute Fee überzeugt Marie Kondo die Menschen mit dem Heilsversprechen, dass sich ihre Probleme lösen, wenn sie die Wohnung vom Ballast befreien.
Koch: In einem ihrer Bücher, die sie als Manga in der japanischen Comic-Form darstellt, erzählt Marie Kondo die Geschichte einer 29jährigen Frau, die von ihrem Freund verlassen wurde. Zu Beginn dieser Liebe hatte er ein Porträt von ihr als junge, schöne und starke Frau gemalt. Nun soll sie, beraten von Marie Kondo, dieses Ölgemälde aussortieren, damit sie sich vom Freund wirklich trennen kann. Schliesslich zerstört sie das Bild und bringt es zum Abfall. Dieser Schlüsselmoment bringt die Wende, denn beim Container trifft sie auf den Nachbar und die beiden verlieben sich. Diese Geschichte hatte eine Aufräumwelle zur Folge, säckeweise wurden Dinge in Secondhand-Läden und Brockenhäusern abgegeben. Ich selber würde das Bild, das mich so schön und stark zeigt, behalten und einen Weg suchen, die Trauer zu transformieren, damit mir das Bild Kraft gibt.
Vuilleumier: Marie Kondo interessiert die Geschichten hinter den zu verabschiedenden Objekten nicht. Sie stellt sich mit einer Meditation dem Haus vor und gibt Hausaufgaben mit Anleitungen, wie man sich von einem Gegenstand mit einem Ritual verabschiedet: Man hält den Gegenstand hoch und bedankt sich bei ihm, dass er so lange Freude bereitet hat.
Gibt es Untersuchungen über die Nachhaltigkeit solcher Aufräumaktionen?
Koch: Marie Kondo behauptet, dass sich nach einer Aufräumaktion nach ihrer Methode die Menschen an die Ordnung halten. Beim Nachfragen in unserem Bekanntenkreis klingt es anders, da schleicht sich die alte Unordnung bald wieder ein.
Wie wollen Sie das Thema umsetzen?
Koch: Wir suchen Leute, die Dinge haben, die ihnen einmal etwas bedeutet haben und sich nun davon trennen möchten. Wir bieten an, die Dinge gratis abzuholen und wünschen eine persönliche Geschichte zu dem Objekt. Wir sammeln also Objekte mit den damit verbundenen Geschichten und gestalten daraus eine Performance.
Vuilleumier: Als Szenografin schaffe ich aus den gesammelten Gegenständen eine Skulptur, ein Bühnenbild für das Stück. Die Objekte verwandeln sich zu einem Kunstwerk, damit erhalten sie neues Leben. Aus den Geschichten schreibt Liliane den Text. Die Spender von Objekten und Geschichten bleiben anonym.
Wie wollen Sie das Stück bespielen?
Vuilleumier: Der Arbeitstitel heisst Temple of Chaos. Liliane und ich sind die Performerinnen, eine Art Priesterinnen des Chaostempels.
Aus: Marie Kondo, The Life-Changing Manga of Tidying up: a magical story, 2017.
Vuilleumier: In Temple of Chaos wollen wir eine Interaktion mit dem Publikum. Die Objekte aus der kreativ geschaffenen Skulptur können am Schluss der Aufführung erworben werden, dadurch verändert sich sowohl die Skulptur als auch die Performance bei jeder Aufführung.
Koch: Wir passen den Text und die Skulptur für die einzelnen Vorstellungen an, dadurch wird das Stück auch brüchiger.
Wie kommen Sie zu den Geschichten und Objekten?
Vuilleumier: Wir fragen verschiedene Organisationen, Bekannte und Freunde aus unserem Umfeld nach bedeutungsvollen Objekten, die sie loswerden möchten und schreiben die dazugehörigen Geschichten auf.
Haben Sie ein Zielpublikum vor Augen?
Koch: Grundsätzlich richtet sich das Stück an alle. Wir führen es drei Mal Mitte Dezember auf. Alles, was wir an den Aufführungsabenden nicht verkaufen, versteigern wir bei der Zusatzvorstellung am Jahresende – einem Silvester-Event.
Gibt es weitere Punkte, die Ihnen wichtig erscheinen?
Koch: Es würde uns freuen, wenn sich Leserinnen und Leser dieses Beitrags aus dem Umkreis von Zürich angesprochen fühlen und uns kontaktieren. Wir holen den Gegenstand, von dem Sie sich eigentlich längst trennen wollten, gerne bei Ihnen ab und freuen uns auch auf die dazugehörige Geschichte. Selbstverständlich erhalten Sie eine Freikarte für die Abendvorstellung.
Wir bedanken uns für das Gespräch.
Wenn Sie interessiert sind und Objekte besitzen, die Sie für das Projekt abgeben möchten, können Sie sich hier melden:
info@dergrossetyrann.com
Aufführung: Hyperlokal, Grubenstrasse 39, 8045 Zürich
13. / 14. / 15. Dezember 2019, um 20 Uhr
31. Dezember Silvester-Event mit Versteigerung der übriggebliebenen Objekte