StartseiteMagazinGesellschaftSchweizer KZ-Häftlinge – die vergessenen Opfer

Schweizer KZ-Häftlinge – die vergessenen Opfer

Nun gibt es sie endlich, die umfassende Dokumentation über die Schweizerinnen und Schweizer, die in den Jahren 1933 – 1945 in KZs der Nazis inhaftiert waren und für die sich der Schweizerische Bundesrat viel zu wenig eingesetzt hat.

Wer die Gedenkstätte des KZs Buchenwald betritt, trifft beim sog. Appellplatz auf eine Tafel, die die Nationalitäten der Häftlinge auflistet, die hier gequält und ermordet wurden. Dass zwischen «Schweden» und «Senegalesen» die Nationalität «Schweizer» aufgeführt ist, war für die Autoren des soeben erschienenen Buches «Die Schweizer KZ-Häftlinge. Vergessene Opfer des Dritten Reichs» völlig neu und für sie als erfahrene Journalisten eine starke Motivation, sich intensiv mit der Thematik zu befassen. Vier Jahre ausgiebiger Recherchen in zahlreichen Archiven, Sichtung von Dokumenten und Datenbanken, Gesprächen mit Nachkommen und Verwandten der ehemaligen Häftlinge und weiterer Nachforschungen lagen vor ihnen.

Am 29. Oktober 2019 wurde das Buch nun erstmals im Kulturhaus KOSMOS in Zürich einem zahlreich erschienenen Publikum vorgestellt. Was hier detailliert und fundiert zur Sprache kommt, erschüttert und macht auch knapp 75 Jahre nach Kriegsende immer noch tief betroffen.

Alle festgenommenen Schweizerinnen und Schweizer wurden in Deutschland selbst oder in von den Nazis besetzten Staaten verhaftet und in ein KZ deportiert. Weil sie Widerstandskämpfer waren, Jüdinnen und Juden, Sozialisten, «Asoziale», Zeugen Jehovas oder Sinti und Roma, Homosexuelle, weil sie «kommunistische Propaganda» betrieben und was die Nazis sonst noch alles anprangerten. Selbst Kinder wurden nicht verschont unter dem Vorwand, dass sich deren Eltern irgendeines Verbrechens schuldig gemacht hätten.

Das Autorenteam konnte mindestens 391 Menschen nachweisen, die bei der Verhaftung oder zu einem früheren Zeitpunkt die Schweizer Staatsbürgerschaft besassen. Mindestens 201 Frauen und Männer starben. Hinzu kommen mindestens 328 KZ-Häftlinge, die in der Schweiz geboren wurden, zumeist hier aufwuchsen, jedoch nie eingebürgert wurden. Von diesen überlebten 245 Menschen den KZ-Terror nicht.

Freilassungen wären möglich gewesen

Die Autoren kommen aufgrund ihrer aufwendigen Recherchen eindeutig zu dem Schluss, dass die offizielle Schweiz mehr hätte unternehmen können, um die Inhaftierten freizubekommen. Doch sie setzte sich nur in Einzelfällen für ihre dem Tod ausgelieferten Bürgerinnen und Bürger ein, obwohl immer wieder aussichtsreiche Möglichkeiten bestanden hätten. Zu erwähnen ist etwa das starke Interesse Deutschlands in den letzten Kriegsjahren, eine grosse Zahl der Schweizer Inhaftierten gegen in der Schweiz gefangen gehaltene Deutsche auszutauschen. Doch das Schweizer Aussenministerium ergriff die Chance nicht. In einem Schreiben vom 15. Juli 1944 hielten die Behörden fest, welche Schweizer Häftlinge für Bern grundsätzlich nicht für einen Austausch infrage kamen: «Kriminelle und solche, die eine Tätigkeit ausgeübt hatten, die auch in der Schweiz unter Strafe gestellt ist oder aber im mindesten den schweizerischen Interessen abträglich scheint», wie beispielsweise Spionage gegen Deutschland zugunsten dritter Staaten, Beteiligung an der Widerstandsbewegung in Frankreich oder bei den Partisanen in Österreich und Italien, «kommunistische Umtriebe».

An der Buchvernissage wurde deutlich, dass von Bundesrat, Verwaltung und diplomatischem Korps auch immer wieder ein «Selbstverschulden» der Inhaftierten ins Feld geführt wurde. Wer in ein KZ deportiert wurde, konnte demnach nicht unschuldig sein. In diesem Zusammenhang betonten die Autoren, wie sehr sich die Schweizer Behörden die Haltung und Terminologie der Nazis zu eigen gemacht hatten und die Inhaftierten offensichtlich nicht mehr als «richtige» und damit schutzbedürftige Schweizerinnen und Schweizer betrachteten. Aus heutiger Sicht ein beschämendes Verhalten.

Halbherzige Wiedergutmachung

Wenige Wochen nach Kriegsende meldeten sich die ersten Schweizer KZ-Überlebenden in Bern. Sehr viele waren nach den mörderischen Qualen entkräftet, schwer krank und mittellos. Weil der Bundesrat an seiner Version festhielt, während des Krieges alles Mögliche unternommen zu haben, um die Landsleute im Ausland zu schützen, verliefen die Vorkehrungen für Entschädigungszahlungen nur halbherzig und kleinlich. Noch 1959 unterschied die Schweizer Regierung bei der Frage der Wiedergutmachung zwischen der «gewöhnlichen Behandlung im KZ» und «darüber hinausgehenden Angriffen auf die körperliche Unversehrtheit».

Aufbau des Buches

Das Buch gliedert sich in drei Teile: Der erste Teil umreisst die historische Entwicklung der Lager und schildert die Verhaftungen und Deportationen von Schweizer Bürgerinnen und Bürgern sowie die Reaktionen der eidgenössischen Behörden darauf. Im zweiten Teil werden zehn Schweizerinnen und Schweizer ausführlich porträtiert, die in Konzentrationslagern inhaftiert waren. Der dritte Teil umfasst die Liste der Schweizer KZ-Häftlinge. Es handelt sich hierbei um die erste Liste überhaupt, die je veröffentlich wurde und soll Memorial und Mahnmal zugleich sein. In diesem Memorial sind viele Fotos von später Inhaftierten wiedergegeben, ebenso Reproduktionen von Dokumenten sowie persönlichen Ausweisen, so dass auch dieser Teil tief berührend wirkt.

Erwünschte Wirkung des Buches

Auf die Frage, welche Wirkung sich die Autoren von dem Buch erhoffen, wurde an der Vernissage zunächst der Wunsch nach weiterer Forschungstätigkeit an universitären Instituten erwähnt, verbunden mit dem Anliegen, dass dieses düstere Kapitel der Schweizer Geschichte im Bewusstsein der Bevölkerung einen festen Platz erhält. Auch sei es an der Zeit, dass sich die offizielle Schweiz mit ihrem damaligen Verhalten und den Versäumnissen kritisch auseinandersetzt. Ausserdem, so die Autoren weiter, würde es dem Bundesrat gut anstehen, endlich das Unrecht anzuerkennen, das Hunderten von Schweizerinnen und Schweizern und in der Schweiz geborenen und aufgewachsenen Menschen von den Nazis angetan wurde.

Weitere Veranstaltung:

27. November 2019, 18.00 – 19.30 Uhr. Die Autoren berichten über ihre  Forschungstätigkeit und beantworten Fragen aus dem Publikum. Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich, Hirschengraben 62, 8001 Zürich. Anmeldung unter afz@history.gess.ethz.ch

Balz Spörri, René Staubli, Benno Tuchschmid: Die Schweizer KZ-Häftlinge. Vergessene Opfer des Dritten Reichs. NZZ libro, 318 S.

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