StartseiteMagazinKulturBunt gemalte Gesellschaftskritik

Bunt gemalte Gesellschaftskritik

Das Migros Museum für Gegenwartskunst zeigt Arbeiten der niederländischen Künstlerin Lily van der Stokker, die für ihre farbenfroh-verspielten Wandmalereien mit integrierten Texten bekannt ist. Die Einzelausstellung gibt mit mehr als zehn Wandbildern sowie mehreren Zeichnungen aus den späten 1980er Jahren bis heute Einblick in ihr Schaffen.

Lily van der Stokkers (*1954 in Den Bosch, Niederlande) Arbeit ist eine Weiterführung der amerikanisch-feministischen Pattern-and-Decoration-Bewegung. Diese richtete sich Mitte der 1970er Jahre gegen den männlich und westlich dominierten Abstrakten Expressionismus und Minimalismus. Die Bewegung forderte eine Aufwertung kunstgewerblicher Arbeiten, der Ornamente und Farbigkeit, was im Kunstbetrieb gerne als Weiblichkeit abgewertet wurde.

Lily van der Stokker, Ausstellungsansicht Migros Museum Zürich. Foto: rv.

Lily van der Stokker eröffnete 1983 eine Galerie im East Village, damals ein gefährliches heruntergekommenes Quartier in New York, das zahlreichen experimentellen Künstlern billige Räume zum Arbeiten und Wohnen bot. Die Künstlerinnen begannen hier aktiv mit Plakaten gegen ihre Benachteiligung zu protestieren und setzten dazu Texte als starkes feministisches Signal ein. Lily suchte ihren Ausdruck nicht im Lauten und Plakativen, sondern sie wollte Textfragmente anders verwenden: «Kleiner, verletzlicher, persönlicher, handgeschrieben. Nicht so cool, eher etwas naiv», wie sie erklärte. Sie tauschte den Kugelschreiber gegen den Filzstift ein und «allmählich kam mehr Farbe, mehr Positives in meine Arbeiten. Ich hatte beschlossen, den Text zum Hauptbestandteil zu machen; mal eine Blume hier oder ein Haus da nur als figurative Elemente».

Lily van der Stokker, I Am an Artwork, 2003/19, Acryl auf Wand und Holz, Sammlung Migros Museum für Gegenwartskunst.

Van der Stokkers Arbeiten wurden 1990 erstmals in einer Einzelausstellung in New York in der Feature Gallery präsentiert, ein Jahr später lud man sie für eine Gruppenausstellung in Nizza ein zusammen mit damals noch jungen unbekannten experimentellen Künstlern, die heute berühmt sind, wie Sylvie Fleury. Die aktuelle Ausstellung im Migros Museum für Gegenwartskunst zeigt im Parterre Werke aus ihrer frühen Zeit und im Obergeschoss der letzten Jahre.

Lily van der Stokker, «help, help a little old lady here», 2018/19, Courtesy the artist and kaufmann repetto Milan/New York. Die Künstlerin vor ihrem Wandgemälde. Foto: rv.

Im Gegensatz zu traditionellen Wandgemälden, die dauerhaft für die Nachwelt hergestellt werden, haben Lily van Stokkers Wandmalereien nur eine kurze Lebensdauer. Sie basieren auf detaillierten Zeichnungen, die digitalisiert und auf die Wand im Ausstellungsraum projiziert werden. Die Projektionen werden von der Künstlerin an den Raum angepasst und dienen als Vorlagen für die Zeichnung der Wandmalerei.

In einem zweiten Schritt erhalten die Arbeiten ihr farbenfrohes Aussehen und zuletzt werden alle Konturen in einem durchgehenden Pinselstrich ausgeführt, eine Technik, die viel Können und Übung erfordert. Mittlerweilen hat die Künstlerin ein bewährtes internationales Team von Künstlern, die sie bei der physisch anstrengenden Ausführung unterstützen. Für die Arbeit im Migros Museum hätten sie achtzehn Tage gebraucht, erzählte sie. Wenn die Ausstellung vorbei ist, wird alles wieder übertüncht, Fotos dokumentieren die Arbeit.

Lili van der Stokker, Loan, Design for wall painting with box, 2003/19, Farbstift auf Papier, 21 x 29,7 cm. Von solchen kleinen Skizzen ausgehend erschafft die Künstlerin ihre Wandmalereien. Dieses Bild ist in Zürich als gerahmtes kleines Bild ausgestellt, aber im Museum Ludwig in Köln malte sie es im Grossformat an die Wand mit bunt bemaltem Holzkorpus davor.

Lily van der Stokker verweist in einer einfachen Sprache auf scheinbare Banalitäten des Alltags. Durch die Verwendung fröhlicher Farben und bekannter Ornamente, stellt sie eine Beziehung zwischen ihrem Werk und dem Publikum her. Ebenso mit den dreidimensionalen Stühlen und Sofas, die einzelne Wandmalereien ergänzen. Mit den visuellen Bezügen zur Flowerpower der Hippie-Bewegung der 1960er und 1970er Jahre mögen ihre Werke auf den ersten Blick fröhlich, niedlich, unbeschwert oder gar banal erscheinen. Beim näheren Hinschauen überraschen sie oft mit einer Hintergründigkeit und Vieldeutigkeit, die man nicht erwartet, wie in Birthday, wo der gestandene Herr mit fünfzig Jahren wie ein Kind angesprochen wird.

Lily van der Stokker, Birthday, 1998/2019, Acryl auf Wand und Holz, Courtesy the artist and Air de Paris, Paris.

Die Künstlerin stellt unter dem Anschein von Verspieltheit und naivem Optimismus Begriffe wie «weibliche» Kunst oder die «richtige Form» infrage, indem sie mit ihrer eigenen Bildsprache bewusst etablierten Kunstströmungen entgegenwirkt. Mit ihrem experimentellen Ausdruck will sie die geschlechtsspezifischen Unterschiede von männlicher und weiblicher Kunst überwinden. Sie hinterfragt unsere Wahrnehmung. In ihren Arbeiten sind die Dinge nicht so, wie sie zunächst erscheinen.

Trotz ihres leichten fröhlichen Aussehens sind ihre Werke ernsthafte Kommentare zu Alltäglichem, zum Alter, zu Familienmitgliedern, insbesondere zu Grossmüttern, zu Beziehungen und zu Freunden, auch Kommentare zu wirtschaftlichen Mechanismen der Kunstwelt, zu Werten der Kunst, zu sozialen Fragen, zu Renten und Finanzen.

Ihre Ich-Botschaften richten sich direkt an alle, an alle Betrachterinnen und Betrachter. So kann ihre leichtfüssig daherkommende Malerei durchaus als Markt- und Gesellschaftskritik gelesen werden. Und manchmal ertappt man sich dabei, wie einem das Lächeln auf den Lippen gefriert und man leer schluckt.

Lily van der Stokker, Sandwiches with Chocolate Sprinkles, 2007/19, Acryl auf Wand 416 x 819 cm, Courtesy the artist and kaufmann repetto, Milan/New York. Dazu der Text: «I have stopped with the artworld and work now in a nursing home, feeding old people sandwiches with chocolat sprinkles».

Beitragsbild: Lily van der Stokker, Yeah, 1990-91/2019, Acryl auf Wand, Courtesy the artist and kaufmann repetto, Milan/New York.

Fotos: © Migros Museum für Gegenwartskunst, Zürich

bis 23.2.2020
Migros Museum für Gegenwartskunst, Zürich: «Lily van der Stokker, Help help a little old lady».
Im Veranstaltungsraum des Museums ist eine projizierte Werkschau zu sehen: «Lily van der Stokker – 36 years of wall paintings».
In Zusammenarbeit mit dem Stedelijk Museum in Amsterdam und Roma Publications ist eine umfangreiche Publikation erschienen: «Lily van der Stokker, Friendly Good», engl./dt., CHF 48.00.

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1 Kommentar

  1. Danke! Den Namen der Künstlerin habe ich wohl noch nie bewusst wahrgenommen, ich erinnere mich aber, wie mir dieser Stil, diese Farben aufgefallen sind, es muss in den 1970er oder 80er Jahren gewesen sein. Sie war vielleicht die einzige, die diese ins Auge springenden Kombinationen von Pink, Grün, Blau usw. kreiierte, die daraufhin eine Mode wurden.

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