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Geschichten beim Halma-Spiel

Eric Bergkraut erzählt in seinem Erstlingsroman «Paradies möcht ich nicht» die bewegte Geschichte seiner Familie. Bekannt ist der Autor vor allem als Regisseur von Dokumentarfilmen, wie die eben angelaufene Komödie «Wir Eltern», die er zusammen mit seiner Partnerin und Autorin Ruth Schweikert und den Söhnen über das Leben einer Kleinfamilie gedreht hat.

Im «Roman einer Familie», wie der Untertitel heisst, trifft die 16-jährige Louise im April 1943 in Zürich den zehn Jahre älteren jüdischen Flüchtling Felix aus Wien. Sie ist Jungkommunistin und zugleich reformierte Sonntagsschullehrerin. Er, ein Draufgänger, hatte es mit knapper Not geschafft, über die Fremdenlegion und Frankreich in die Schweiz zu fliehen. Die beiden verlieben sich und gründen eine Familie.

Eric Bergkraut. Foto: Ayşe Yavaş

Eric Bergkraut spürt fünfundsiebzig Jahre nach dieser Begegnung den Geschichten seiner Eltern nach. Er erzählt in dem autobiografischen Roman von zwei Menschen, die durch den Zweiten Weltkrieg getrieben sind, von Wien nach Paris, Albisrieden, Limoges, Fes und Aarau. Er erzählt vom Überleben, der Verfolgung, den familiären Verstrickungen und den Spuren, die sich bei ihm und seinen Geschwistern niedergeschlagen haben und vielleicht bis zu seinen Kindern reichen. In einem Interview erwähnt Eric Bergkraut, dass er sich schon lange mit seiner Herkunft beschäftigt habe, doch erst im letzten Jahr Zeit gefunden habe, seine gesammelten Notizen zu sichten, zu ergänzen und zu einem Buch zu gestalten.

Es gibt immer wieder Gespräche mit der alten Mutter, Louise, beim Halma-Spiel im Pflegeheim Bachwiesen in Zürich-Albisrieden. Die Mutter ist dement – «verloren in der Zeit, verloren in der Welt» – und doch kommen immer wieder alte Wahrheiten hoch. Die Kapitel «Halma im Oktober» – oder auch im April, Mai, Juli, November, Januar erscheinen in unregelmässigen Abständen und bilden den roten Faden durch die dreissig Episoden. Der Erzähler trifft dabei die fragile, zugleich resolute, eigenwillige Mutter in der Gegenwart und taucht von hier aus ab in die Vergangenheit dieser starken Frau mit ihren Geschichten. «Paradies möcht ich nicht» rief sie ihrem Sohn einmal nach; nein, sterben wollte sie nicht.

Der Vater, Felix, hatte kurz vor seinem Tod dem Sohn seine Lebensgeschichte erzählt. Auch er war im Alter verwirrt und starb 1997 im Pflegeheim Bachwiesen. Felix hatte als Jude das Jurisprudenz Studium in den 1930er Jahren in Wien abbrechen müssen und verlegte sich vorausschauend auf praktische Dinge fürs Überleben. Er besuchte einen Kurs in Automechanik, übte Französisch und Englisch, trainierte seine Muskeln beim Rudern, was den Vorteil hatte, dass er in der Zeit nicht auf der Strasse oder zu Hause aufgegriffen wurde. Er war vorsichtig, schlau und mutig. Er wollte kämpfen und nicht fliehen. Felix und seine beiden Brüder zogen in die Fremdenlegion nach Nordafrika. Später gelangten sie nach Frankreich, wo ihre inzwischen geflüchteten Eltern nach langem Herumirren in Limoges eine Bleibe gefunden hatten.

Während des Kriegs wurde das Leben für Juden in Frankreich bedrohlich. Felix gelang die Flucht in die Schweiz, wo er als Internierter im April 1943 Louise kennenlernte. 1945 heirateten sie in Paris. Da sie das Schweizer Bürgerrecht nicht behalten durfte, wurde sie wie ihr Ehemann staatenlos. Als Nichtjüdin hatte sie es in Frankreich mit der Schwiegermutter nicht einfach. Die Kinder kamen in St. Maur bei Paris auf die Welt. 1961 zog die Familie nach Aarau, Eric Bergkraut war fünfjährig. Die Ehe war nicht glücklich, doch die Familie blieb zusammen. Es gab Unausgesprochenes, wie die heimliche Verliebtheit Louises in den Schwager Theo oder Felix’ Geliebte. Die Unzufriedenheit der Eltern war für die Kinder eine Hypothek fürs Leben.

Eric Bergkraut erzählt auch Geschichten aus seinem eigenen Leben, wie die Erlebnisse in der Kindheit in Aarau, die frühe Begegnung mit dem Zirkus und der Schauspielkunst oder später seine Zeit in Paris, die Begegnung mit einer Prostituierten, oder er erinnert sich an das Haus in St. Maur, wo er zur Welt gekommen war. Diese Erinnerungen bilden immer wieder Ausgangspunkte für weitere Assoziationen und Geschichten, Gegenwart und Vergangenheit, Personen, Zeiten und Orte wechseln sich ab, manchmal verliert man beim Lesen den Faden, eine Personenliste am Ende des Buches wäre hilfreich.

Auch wenn «Paradies möcht ich nicht» im Untertitel als «Roman einer Familie» bezeichnet wird, ist es eher eine poetische Sammlung lebendiger autobiografischer Geschichten. Die Namen der Personen sind abgeändert, was wahr ist und was fiktiv, tut nichts zur Sache. Die Leserinnen und Leser lernen Menschen aus einer langen Familiengeschichte kennen, die mit dem dramatischen Weltgeschehen der Zeit und seinen Auswirkungen eng verbunden waren.

Der Roman erscheint mir wie ein Film mit längeren und kürzeren Szenen, Bildsequenzen und zahlreichen Rückblenden, die als Ganzes ein grosses Zeitbild wiedergeben. Besonders gut gefällt mir das Zitat von Michail Schischkin auf der Rückseite des Buchumschlags: «Eric Bergkraut schreibt die Erinnerungen seiner Familie auf und baut eine Brücke über den Tod, die Pfeiler sind die wunderbaren atmenden Details, welche die Vergänglichkeit abschaffen.»

Eric Bergkraut, Paradies möcht ich nicht. Roman einer Familie. Limmat Verlag, Zürich, 2019, 200 Seiten, gebunden. Richtpreis CHF 32.00. ISBN 978-3-85791-881-0.

 

 

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