Unser Leben, unser Verhalten während der Corona-Krise wird aktuell per Notrecht durch den Bundesrat bestimmt. Das Notrecht gibt dem Exekutivorgan das Instrument, in Ausnahmesituationen ungewöhnliche, oftmals einschneidende und harte Regeln bestimmen zu können. Die indirekten Folgeschäden, welche solche Regeln in der Gesellschaft gezwungenermassen hinterlassen, kann weder der Bundesrat noch die Politik der drei Gewalten – Legislative, Exekutive, Judikative – alleine auffangen. Dazu ist er jetzt auf die Zivilgesellschaft angewiesen, allen voran auf Non Profit Organisationen (NPO’s) wie das Schweizerische Rote Kreuz oder Pro Juventute.
Gerechtigkeit versus Solidarität
In der Politik im engeren Sinne geht es nicht um Solidarität. Es geht um Gerechtigkeit. So ist z.B. die AHV oder der Umwandlungssatz der Pensionskassen eine Frage der Generationengerechtigkeit und nicht der Generationensolidarität. Generationensolidarität finden wir z.B. im Engagement der Grosseltern für ihre Enkel, resp. im Engagement der Kinder für ihre betagten Eltern. Solidarisches Handeln erkennen wir auch in der engagierten Menge an Freiwilligen, welche Tag für Tag in Vereinen oder NPO’s engagiert sind. Zum Wohle der Verletzlichsten. Beim gerechten Handeln in der Corona-Zeit geht es um das Eindämmen des Virus, damit in erster Linie Risikogruppen möglichst wenig damit in Verbindung geraten, und damit die Gesamtbevölkerung möglichst wenig Schaden nimmt.
In den Aktionen der Zivilgesellschaft hingegen, steht die Solidarität im Vordergrund. Solidarisch sein mit den Benachteiligten, den Armen, den Verletzlichsten. Die Zivilgesellschaft ist das eigentliche soziale Netz in unserem Land. Hier findet Integration statt, hier werden Sinn und Werte erfahren, hier bilden sich persönliche Beziehungsnetze, die auch im Krisenfall zum Tragen kommen. Die Zivilgesellschaft – also auch die NPO’s – kümmert sich aktuell vorbildlich um die Benachteiligten. So zum Beispiel um die 80-jährige Frau, welche das Haus nicht mehr verlassen darf. Ihr werden täglich Nahrungsmittel vor die Tür gestellt.
Rolle der NPO’s in der Corona-Zeit
Die derzeitigen Entscheide des Bundesrats werden vom Grossteil der Bevölkerung mitgetragen und akzeptiert. Risikogruppen werden gebeten, zuhause zu bleiben, Versammlungen sind verboten und die Schulen bleiben geschlossen.
Doch jede einzelne dieser Massnahmen provoziert Krisensituationen im Einzelnen. Alte Menschen können nicht mehr einkaufen gehen, sie vereinsamen, viele Berufstätige bangen aktuell um ihre Existenz, krisengeschüttelte Familien, bzw. belastete Kinder und Jugendliche können nicht mehr aufgefangen werden. Im Grundsatz muss die Politik das Gemeinwohl daran messen, wie es den Ärmsten und Marginalisierten geht. Im Fall der Corona-Krise muss der Bundesrat allerdings der Gesundheit den Vorrang geben. Er muss eine Güterabwägung machen und Entscheide treffen, die für einzelne Betroffene bedrohlich sind. Deshalb liegt es nun an der Zivilgesellschaft, an den Kirchen und den NPO’s, die Stimme für diejenigen zu erheben, die nun auf solidarische Hilfe angewiesen sind. Es liegt an uns, für die betroffenen Menschen da zu sein.
Solidarität in der Corona-Krise
NPO’s wie Pro Juventute und das Schweizerische Rote Kreuz haben in kürzester Zeit ihre Angebote an die Krise angepasst.
Der Grossteil der Kinder und Jugendlichen kommt sehr gut oder ordentlich mit der Situation zurecht. Was aber in der Corona-Zeit vollkommen ausgeblendet wird, ist das Bewusstsein, dass gefährdete Kinder und belastete Jugendliche jetzt erst recht isoliert und im Stich gelassen sind. Wenn wir sie nicht gezielt schützen, werden nicht nur die Betroffenen, sondern die gesamte Gesellschaft nachhaltigen Schaden nehmen. Ein Volk misst sich bekanntlich immer an den Schwächsten.
Pro Juventute hat deshalb die Beratungsstelle «147» massiv ausgebaut und digitalisiert, damit jedes Kind, jeder Jugendliche, der jetzt auf sich alleine gestellt ist, rund um die Uhr Beratung und Hilfe erfährt – und zwar auf allen Kanälen. Ebenfalls massiv ausgebaut wurde die Elternberatung von Pro Juventute. Auch hier können sich besorgte oder überforderte Eltern rund um die Uhr an Fachpersonen wenden oder vom umfangreichen Informationsmaterial auf der Homepage profitieren.
Das Rote Kreuz hingegen hat in Zusammenarbeit mit Coop einen Heimlieferservice installiert, damit Menschen über 65 das Haus nicht mehr für den Einkauf verlassen müssen. Gleichzeitig wurde im Kanton Zürich das Projekt «Grüezi» aufgezogen. Die vom SRK angerufenen Kundinnen und Kunden freuen sich mehrheitlich über eine telefonische Kontaktaufnahme. Eine erste Einschätzung zeigt, dass Menschen aus dem Alterssegment der Dienstleistung Notruf sich in der aktuellen Situation einsam fühlen. Die SRK – Samariterinnen und Samariter sind aktuell als Freiwillige im Grosseinsatz und unterstützen das medizinische Personal in den Spitälern.
In der Krisenzeit entstanden
Pro Juventute ist entstanden, als in der Schweiz eine Lungenkrankheit, die Tuberkulose, grassierte. Pro Juventute gründete eine Kinderklinik und betreute die kranken Kinder. Das Rote Kreuz ist bei der Schlacht von Solferino entstanden. Henry Dunant war betroffen von den vielen Verwundeten auf dem Schlachtfeld, er suchte ein Team von Freiwilligen, pflegte und heilte. Diese simple Tat bedeutete der Anfang der Pflege, wie wir sie heute kennen. Beide NGO’s sind in der Krisenzeit entstanden und beide erfüllen in Krisenzeiten ihre wichtigsten Aufgaben.
Ich werde immer wieder gefragt, warum es in der reichen Schweiz eine Pro Juventute oder ein Rotes Kreuz brauche. Nun: Es ist auch in der modernen Schweiz so, dass der Staat, die Politik alleine, nicht mit allen Menschen solidarisch sein kann. Es gibt in unserem Land eine versteckte Armut, eine versteckte Gewalt, eine versteckte Hoffnungslosigkeit und ein verstecktes Leiden. Es gibt in unserem Land Menschen, die durch die Maschen des sozialen Netzwerks fallen. Unter dem Netzwerk ist ein zweites Netzwerk aufgespannt. Das Netzwerk der Zivilgesellschaft. Dieses Netzwerk ist jetzt in der Corona-Krise neben anderen zu einem der wichtigen solidarischen Pfeiler der krisengeschüttelten Schweiz geworden. Wir bleiben dran.
Barbara Schmid-Federer ist Präsidentin Pro Juventute, Präsidentin Schweizerisches Rotes Kreuz Kanton Zürich, Vizepräsidentin Schweizerisches Rotes Kreuz