Ich räume meinen Computer auf. Da hat es Ordner, in die ich schon lange nicht mehr geschaut habe. Ich finde zahlreiche Referate, Kolumnen, Texte zum Thema «Alter». Da war ich wohl einmal «Reisende» für dieses Thema vor zehn, vor zwanzig und mehr Jahren. Und sagte jeweils, ich sei nicht wissenschaftliche Expertin, hätte keine berufliche Erfahrung auf dem Gebiet. Aber ich sei selber alt und deshalb zu Aussagen befugt! Das nehme ich heute umso mehr für mich in Anspruch.
Ich finde es reizvoll, alte Texte mit meiner heutigen Befindlichkeit zu vergleichen. Mit Vergnügen entnehme ich einem Text von 1999 Lesetipps, die ich heute noch weitergeben will.
Wie hatte ich mich doch seinerzeit über «Die unwürdige Greisin» von Bertolt Brecht gefreut, sie immer und immer wieder gelesen und von ihr erzählt. Sie benahm sich im Alter so gar nicht, wie ihre Familie erwartete. Sie übergab das Haus nicht ihrem jüngsten Sohn, zog sich nicht zurück, sie «hatte die kurzen Jahre der Freiheit ausgekostet und das Brot des Lebens aufgezehrt bis auf den letzten Brosamen» heisst es von ihr am Schluss des Buches.
«Zwei alte Frauen» von Velma Wallis, eine Legende von Verrat und Tapferkeit, führt uns zu einem indianischen Nomadenstamm im Norden Alaskas. Es herrscht Hungersnot, die Gruppe muss weiterziehen und ist gezwungen, nach Stammesgesetz, die zwei alten Frauen als «unnütze Esser» zurückzulassen. Aber diese geben nicht auf. Ich erinnere mich, mein Buchhändler sagte mir damals, das Buch sei ein Geheimtipp. Immer wieder komme jemand und verlange es. Das verstand ich gut, als ich es gelesen hatte.
Und der Briefwechsel von Anne Biegel und Heleen Swildes mit dem Titel: «Wo ist denn meine Brille?» verleitet auch heute noch zum Schmunzeln. Die Brille liegt im Kühlschrank und der Kräuterkäse in der Schreibtischschublade. Das wird, wie vieles andere, mit einem Augenzwinkern erzählt.
Im Jahr 2002 tönten meine Aussagen über das Alter etwa so: «Ich gehöre zu einer Generation, die heute ein schönes Alter haben kann, da wir finanziell gesichert sind. Geld ist nicht alles im Leben, kann aber, gerade im Alter, das Leben erleichtern. Meine Altersgenossinnen und -genossen sind gesund und fit. Die Hilfsangebote für den Notfall sind ausgebaut».
Damals schon war klar, dass das Klischee der armen, hilfsbedürftigen, alten Menschen der Vergangenheit angehörte. Dass es in unserem Lande die jungen Familien mit Kindern, die Alleinerziehenden, die «working poors» sind, die damals und heute noch der Aufmerksamkeit und Hilfe bedürfen.
Im selben Referat habe ich auch die «rationierte Medizin» angesprochen: «Selbstverständlich würden wir aus der Intensivstation wieder hinausgekarrt, wenn ein junger Sportler oder eine Mutter unseren letzten Platz benötigen würde». Wie ich damals zu meiner radikalen Aussage kam, weiss ich nicht mehr. Vielleicht war damals gerade eine öffentliche Diskussion im Gange. Zum Glück müssen wir sie in der heute angespannten Situation so nicht führen. Hoffen wir, dass es so bleibt.
Und dann hielt ich etwas fest, was ich heute bemerkenswert finde. Vor knapp zwanzig Jahren war meine Meinung: «Ich behaupte, dass unser aller Gemüt noch nicht darauf eingestellt ist, mit ganz alten Menschen umzugehen. Es ist für uns neu, dass unsere Angehörigen und Freunde neunzig Jahre alt und älter werden.».
Diese Situation hat sich ganz gehörig geändert. Wir besprechen das oft im Freundeskreis. «Früher» war es aussergewöhnlich, jemanden zu kennen, der neunzig und mehr Jahre alt war. Heute können wir alle mehrere Menschen dieser Altersgruppe aufzählen, die uns nahe stehen.
Als absolute Trouvaille bezeichne ich einen Text, den die Schauspielerin Maria Becker (1920–2012) im Zusammenhang mit ihrem 80. Geburtstag irgendwo veröffentlicht hatte. Ich bin glücklich, dass ich diese Aussagen, die sich in meiner Erinnerung vage festgesetzt hatten, wieder gefunden habe.
Unter dem Titel: «Warum zum Teufel dieses Noch?» schrieb sie: «Als ich mein Leben anfing, hiess es, ich sei schon da, ich könne mir schon selbst die Schuhe schnüren und schliesslich konnte ich schon lesen, schreiben, schwimmen und einiges mehr».
Dann hatte sie einige Jahre Ruhe, bis es anfing mit dem «Noch». Von einer Bekannten wurde sie gefragt: «Was, Sie fahren noch Auto?» Das habe sie getroffen, wie ein Donnerschlag. Und jetzt heisse es, sie arbeite noch, stehe noch auf der Bühne, lasse noch ihre Küche renovieren. Und biegt dann auf den Schlusssatz ein: «Ich würde mir am Tag vor meinem Tod noch ein neues Auto kaufen – einen Peugeot natürlich, weil ich damit so zufrieden bin – und Sie?»
Die Zeiten haben sich geändert. So hinterfragt werden die aktiven Achtzigjährigen heute nicht mehr! Als Fazit kommt mir in den Sinn: «Alles verändert sich, und alles bleibt gleich, dazwischen sind wir auf der Reise, kreisen wie Fische im Teich» (Aus «Fische im Teich» von «Silbermond», veröffentlicht 2015.) Wenn ich den ganzen Song lese, so trifft er meinen aktuellen Gemütszustand nicht. Aber der Refrain, der Refrain gefällt mir sehr!
Bertolt Brecht «Die unwürdige Greisin und andere Geschichten» Suhrkamp Taschenbuch 1746; Velma Wallis: «Zwei alte Frauen» 1994 Ingrid Klein Verlag, Hamburg; Anne Biegel/Heleen Swildens: «Wo ist denn meine Brille?» im deutschen Taschenbuchverlag Nr. 25100
Intensiv bewegt hat mich “Zwei alte Frauen” seinerzeit; ich habe das Buch sofort ausgeliehen und nicht mehr zurück erhalten…
Ich finde Ihre Texte wunderbar. Und alle 3 Bücher habe ich auch gelesen und war fasziniert.
Mit ihrem Beitrag haben sie mir aus dem Herzen gesprochen.Mit meinem 87 Jahren,gesund und immer noch neugierig auf das Leben,nicht aber ohne der Endlichkeit bewusst zu sein,fühle ich mich manchmal noch „mitten drin“!Mein immer noch selbständiges Leben,erachte ich als unverdientes,grosses Geschenk und bin. unendlich dankbar dafür.Das Buch „Zwei Frauen,“habe ich mit Genuss gelesen und an mancher Stelle mich selber darin gefunden.