StartseiteMagazinGesundheitDas Leben mit der Angst im Nacken

Das Leben mit der Angst im Nacken

Hatten Sie wegen Corona in den letzten Monaten auch Angstgefühle? Das ist ganz normal. Wie muss es aber Menschen gehen, die schon vor der Pandemie unter Zwangsstörungen oder Ängsten, beispielsweise vor Viren und Bakterien, litten? PD Dr. med. Steffi Weidt (Bild) erklärt, wie Betroffene die Pandemie erleben und warum wir sie unterstützen können, indem wir uns an die Regeln halten.

Plötzlich kam das Virus zu uns, das wir bisher nur aus den Nachrichten aus fernen Ländern kannten. Nie­mand wusste zu dem Zeitpunkt, wie gefährlich es für die Bevölke­rung der Schweiz werden würde. Deswegen mussten Behörden und Politiker in kurzer Zeit Entschei­dungen im Blindflug treffen, um die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen, ohne gleichzeitig in eine übertriebene Panik zu verfallen. Sie orientierten sich dabei auch an den Erfahrungen und an den Massnah­men anderer Länder und entschie­den sich dann für einen Mittelweg. Zwar gab es einen weitreichenden Lock Down, gleichzeitig gab es aber keine absoluten Ausgangsverbote, wie in einigen unserer Nachbarlän­der.

Schaut man jetzt zurück, kann man den Eindruck gewinnen, dass auch der Mittelweg übertrieben war. Die­ser Eindruck ist aber mindestens teilweise ein sogenanntes Präventionsparadox, das uns im Nachhinein an der Notwendigkeit der Massnah­men zweifeln lässt. Denn es sieht hinterher so aus, als habe man die präventiven Massnahmen nicht ge­braucht, obwohl genau diese wahr­scheinlich viele vor Krankheit oder Schaden bewahrt haben. Das ist ein bekanntes Phänomen, das dazu führt, dass, je besser präventive Massnahmen wirken, diese desto mehr im Nachhinein kritisiert wer­den.

Eine Gratwanderung zwischen verschiedenen Bedürfnissen

Auch heute noch ist es eine Grat­wanderung zwischen nötigen Mass­nahmen, um die Infektionsgefahr zu verringern und zu starkem Ein­griff in das Wohlbefinden und in die persönliche Freiheit von uns allen. Mittlerweile ist die Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr Realität. Diese Massnahme wird von vielen als starker Eingriff empfunden und könnte tatsächlich bei einigen Men­schen zu einer Verstärkung der Ängste führen. Zum einen, weil die Masken die Bedrohung präsenter erscheinen lassen, zum anderen aber auch, weil sie das Gefühl von Atemnot verstärken, unter dem ei­nige Personen mit Angststörungen oder sozialen Ängsten leiden. Diese Personen sind im schlimmsten Fall vom öffentlichen Verkehr quasi aus­geschlossen, was das Stressempfin­den wahrscheinlich nochmals ver­stärken dürfte. Gleichzeitig wissen wir, dass die Maskenpflicht viele von uns vor einer Ansteckung schützen und damit auch dazu beitragen kann, dass noch weitrei­chendere Massnahmen nicht nötig werden.

Deswegen wünsche ich mir auch aus psychiatrischer Sicht, dass sich alle an die aktuellen Regeln halten werden: Denn für Menschen mit psychiatrischen Störungen ist es besonders wichtig, dass wir nicht in einen zweiten Lock Down hineinlau­fen. Schon jetzt werden mehr Patient*innen an der Psy­chiatrischen Universitätsklinik angemeldet als vor der Pandemie. Sie kämpfen mit hohem Stress, klagen über depressive Entwicklungen und haben teilweise Suizid­gedanken. Einige von ihnen leiden direkt unter den ein­schränkenden Massnahmen, andere unter den wirt­schaftlichen Folgen der Pandemie.

Sollte es aber doch zu einer zweiten Welle kommen, wäre es für die psychiatrischen Patient*innen sehr wich­tig, dass diese trotz allem psychiatrisch und psychothe­rapeutisch auf sehr hohem Niveau versorgt werden können. Das beinhaltet auch, dass die Krankenversiche­rungen telemedizinische und auch digitale Angebote im gleichen Umfang wie direkte Kontakte übernehmen sollten, was aktuell leider nicht der Fall ist.

Den guten Mittelweg bei Ängsten und Zwängen fin­den

Die Pandemie ist vor allem eine besondere Situation für Personen mit verschiedenen Ängsten, mit Zwangsstö­rungen oder mit der sogenannten Mysophobie, der Angst vor Viren und Bakterien. Dabei sehen wir im gro­ben zwei Gruppen. Es gibt eine Gruppe von Betroffe­nen, die sich nun in ihren Ängsten und Zwängen bestä­tigt fühlen. Im Alltag sind diese Menschen teilweise etwas entlastet, denn der Zwang kann etwas offener ausgelebt werden. Die meisten Bekannten haben Ver­ständnis für die Angst vor dem Virus und akzeptieren zum Beispiel ohne Probleme, wenn man sich einmal pro Stunde die Hände desinfiziert. Noch vor vier Monaten hätte dies gegebenenfalls zu Nachfragen geführt. Da­durch nehmen die Betroffene ihre Krankheit weniger wahr und möchten teilweise die Therapie sogar pausie­ren oder beenden, weil sie sie nicht mehr für notwendig halten. Die zweite Gruppe leidet hingegen stärker unter Ängsten und Zwängen als vor der Pandemie und wäscht und desinfiziert zum Beispiel die Hände noch mehr. Diese Patient*innen erkennen das Problem meistens auch klar und wollen weiterhin behandelt werden.

Für die Betroffenen ist es wichtig, dass sie gemeinsam mit ihren Therapeut*innen herausfinden, in welchen Si­tuationen sie verhältnismässig handeln und wann im Gegensatz dazu ein Zwang oder eine übertriebene Angst ihre Handlungen bestimmt. Wann war es z.B. übertrie­ben, die Hände zu desinfizieren, zu Hause zu bleiben, auf Treffen oder Ladenbesuche zu verzichten und in welchen Situationen war dieses Verhalten angebracht? Das ist keine einfache Aufgabe und braucht sowohl vom Betroffenen als auch von den Therapeut*innen eine sehr gute gemeinsame Vertrauensbasis und Einsichtsfähig­keit, dass trotz Corona-Pandemie manche Verhaltens­weise zu viel statt zu wenig sein kann.


PD Dr. med. Steffi Weidt ist Stv. Chefärz­tin und Zentrumleiterin des Zentrums für Depressionen, Angsterkrankungen und Psychotherapie (ZDAP) an der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychoso­matik der Psychiatrischen Universitätskli­nik Zürich. Zudem ist sie Co-Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft für Zwangsstörungen.

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2 Kommentare

  1. Probleme treffe ich vor allem an bei Dementen Leuten, Vor allem jene die den Partner noch erkennen aber bereits im Heimen sind. Warum bleibt der Besuch aus? warum darf ich nicht mehr umarmen etc

  2. Ob man nicht auch Gesprächgruppen / Selbsthilfegruppen für Betroffene anbieten könnte? Peter Jedlicka hat gut umsetzbare Ratgeber für Gruppen ohne Trainer geschrieben (Gesprächsgruppen selbst organisieren / Reflexionsgruppe).

    MfG Reiner

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