Sind die frühesten Höhlenzeichnungen schlicht Abbildungen des täglichen Lebens und damit geschichtsträchtig oder sind sie bereits kunstwürdig? Und ist Harald Nägeli, der Sprayer von Zürich, eher ein Schmierfink oder legitimieren seine Strichfiguren eine künstlerische Zuordnung?
Der Fassadensprayer, der seiner zeichnerischen Fabulierlust auch noch mit 80 Jahren spraydosen-bewehrt durchs nächtliche Zürich nachgeht, ist von der Stadt Zürich mit dem Zürcher Kunstpreis im Werte von 50’000 Franken geehrt worden, während der Kanton und betroffene Hausbesitzer ihn wegen Sachbeschädigung einklagen: «Es gibt keine Rechtsgrundlage, aufgrund deren Kunstwerke im denkmalpflegerischen Sinn geschützt werden können.» Ist das nun eine groteske Seldwylerei oder steckt mehr dahinter?
Hans Waldmann mit Nägelis Sensenmann
Die Stadt will den todkranken Anarcho-Sprayer dafür auszeichnen, dass er während der Corona-Pandemie, auch den eigenen Tod vor Augen, seine berühmt gewordenen Todesfigurinen an zahlreichen Wänden, beim Kunsthaus hinter Rodins Höllentör und am Waldmann-Denkmal beim Stadthaus anbrachte, eine Provokation, welche u.a. auch den Geschäftsführer der Zürcher Kunsthausstiftung auf den Plan rief, denn „jeder unbefugte Eingriff ins Eigentum ist Sachbeschädigung.“ Harald Nägeli dazu: „Die Anzeige ist ein Ressentiment vom Kunsthaus als kapitalistische Institution gegenüber der Utopie.“ Gilt es nun, die umstrittene Street-Art-Kunst eines Pioniers zu würdigen oder ist es schlicht Sachbeschädigung eines Bauwerks, das denkmalgeschützt ist? Der Kunsthaus-Eingang gehört seit einigen Tagen wieder ganz Rodin, das Totengespenst ist entfernt.
Nägeli nennt sie Kleingeister, die seine Botschaften seit bald einem halben Jahrhundert „zerstören“, während die Juristen Rechtsgleichheit anmahnen. Was gilt jetzt? Legitimiert der Kunstbegriff das Ärgernis Nägeli mit seinen clandestinen nächtlichen Eskapaden gegenüber Heerscharen von Hobby-Sprayern, die für sich gleich lange Spiesse beanspruchen? Eine Krux, welche die Öffentlichkeit seit jeher spaltet.
Laut Wikipedia bezeichnet das Wort Kunst „im weitesten Sinne jede entwickelte Tätigkeit von Menschen, die auf Wissen, Übung, Wahrnehmung, Vorstellung und Intuition gegründet ist.“ Mit dieser Definition lässt sich aber auch jeder Kitsch und jedes Graffiti in den Dunstkreis der Kulturgüter aufnehmen.
Dem Bürgermeister Hans Waldmann zu Füssen: ein Nägeli für die Ewigkeit?
Der Stadtrat von Zürich hält zum Geehrten fest, der sogenannte «Sprayer von Zürich» sei eine künstlerische Ausnahmepersönlichkeit, zudem würden einige ältere und neuere Werke des Street-Art-Pioniers in den städtischen Kunstbestand aufgenommen: «Die Arbeitsgruppe Kunst im öffentlichen Raum hat den Auftrag, eine kunsthistorische Einschätzung zu verfassen und dem Stadtrat Vorschläge zu unterbreiten, wie die Stadt mit den Werken umgehen soll.»
Bei der Kirche Hottingen entscheidet die Kirchenkreiskommission, ob sie einen angebrachten Naegeli erhalten will. Deren Präsident gab sich optimistisch: «Es ist ein ungebetenes, aber schönes Geschenk.»
Über Geschmack lässt sich bekanntlich ebenso wenig streiten wie über den Kunstbegriff:»Dē gustibus nōn est disputandum» ist uns als lateinische Redewendung geläufig. Auf gut Deutsch: In Geschmacksfragen kann es kein „richtig“ oder „falsch“ geben, sie liegen jenseits aller Beweisbarkeit. C’est une affaire à suivre. Fortsetzung folgt.
Fotos © Joseph Auchter
Man muss wohl vom «erweiterten Kunstbegriff» ausgehen. Danach ist Kunst ein bewusstes symbolisches Tun (singen, malen, sprayen), das auf die Menschen, die Gesellschaft auf bestimmte Weise einwirken will. Somit gehörte zu Nägelis Kunst die Heimlichkeit der Aktion und die Reaktion der Öffentlichkeit , Empörung, polizeiliche und juristische Initiative, die Diskussion um Kunst und Sachbeschädigung. Mit der Ehrung bzw. Vereinnahmung Nägelis durch eben diese Öffentlichkeit verliert das Werk die intentierte Wirkung. Es bleiben nur noch die historische Erinnerung und die Skelette, über deren Schönheit sich gewiss streiten lässt. Jedenfalls eher streiten lässt, als – um einen fernen Vergliche zu zihene – über eine ägyptische Skulptur, die in Schönheit strahlt, auch wenn ihre einstige religiöse oder machtbezogene Wirkung längst keine Rolle mehr spielt. Herbert Büttiker
Bei ungefrager Spraykunst im öffentlichen Raum gilt es, die verschiedenen Interessen gegeneinander abzuwägen. Kunst kann für die Bevölkerung einen Mehrwert schaffen, indem sie ästhetisch anspricht und damit Freude bereitet oder indem sie gesellschaftliche Themen aufgreift und zum Nachdenken anregt. Ungefragte Spraykunst im öffentlichen Raum kann aber auch stören. Wenn Harald Nägeli zum Beispiel das Denkmal von Hans Waldmann «verziert», dann lässt er das Denkmal in einem anderen Licht erscheinen. Ich nehme an, dass die meisten Betrachter eine solche «Spraykunst» als Verunstaltung und Entwertung des Denkmals erleben. Es ist zwar legitim, die Rolle von Hans Waldmann in der Zürcher Stadtgeschichte kritisch zu hinterfragen. Aber das Besprayen des Denkmals ist der falsche Weg, seine kritische Haltung zu äussern. Spraykunst in Ehren, aber wo, wann und wie sie gezeigt wird, soll nicht einfach im freien Ermessen des Künstlers liegen. Kunst darf kritisch und provokativ sein. Aber auch Kritik und Provokation müssen sich an gesellschaftliche Regeln halten. Ausnahmen sind nur zulässig, wenn Kritik und Provokation der Gesellschaft zu einem echten Mehrwert verhelfen. Die Zürcher Gesellschaft ist nicht derart krank und hilfsbedürftig, dass sie von Harald Nägeli aufgeweckt und verbessert werden müsste.
Was würde wohl Harald Nägeli sagen, wenn andere ‹Künstler› sein Eigentum ungefragt besprayen würden?
Für mich ist das Geschmiere. Ich darf nicht einfach Gegenstände besprühen mit der Begründung, ich sei krank. Das Beschmieren fremden Eigentums ist für mich krank, wobei es keine Rolle spielt, ob dies gut oder schlecht aussieht. Über Geschmack lässt sich meiner Meinung nach nicht streiten, denn es gibt sehr wohl guten und schlechten Geschmack. Ein Bild muss mich ansprechen, eine Geschichte und eine Melodie ebenso. Unschönes und Unangenehmes oder Unkenntliches mag Kunst sein, doch niemals Kultur, die ich ohnehin bevorzuge.
Nägelis Strichmännchen können gefallen oder nicht. Jedenfalls regen sie an. Auch die Art und Weise, wie sie entstehen. Ich war in Buenos Aires auf einer Exkursion den „Murales“ nach. Künstler bringen ihre bildlich dargestellten Messages mit Spraydosen auf graue Hausfassaden, Mauern, Trottoires an. Oft mehrere Quadratmeter grosse Gebilde. Der Exkursionsleiter beantwortete meine Frage, ob das nicht Vandalismus an privatem oder öffentlichem Eigentum sei wie folgt. Die Künstler möchten als solche anerkannt werden Und nicht als Vandalen, deshalb fragen sie vorgängig den Besitzer Oder die Stadt um Erlaubnis. Selten werde eine Anfrage negativ beantwortet. Eigentlich ein einfaches Vorgehen. Offensichtlich geht es Nägeli nicht nur um eine künstlerische Message.