Georg Kohler – dichtender Philosoph und Dichter, der schaut, staunt, philosophiert und treffsicher formuliert.
Gedichte sind immer wieder äusserlich erfassbare Bilder einer Innenwelt -oder können das mindestens sein. Denn es gibt im Verlauf der Literaturgeschichte die vielseitigsten Ansichten darüber, was ein Gedicht sei. Sprachliche Bilder, Lieder, genau erfasste und wiedergegebene Eindrücke von hinter den Dingen der Wirklichkeit liegendem – kommt darauf an, wer zu welcher Zeit mehr oder weniger literaturwissenschaftlich über Gedichte geschrieben hat.
Georg Kohler (geb. 1945) wirkte zuletzt als Ordinarius für Philosophie (unter besonderer Berücksichtigung der politischen Philosophie) an der Universität Zürich. Er schreibt im Vorwort zu seinem Band Lichtwechsel. 51 Gedichte, dass Gedichte in verschiedenen Formen erscheinen können, von genauen Regeln definiert; als dramatische Balladen, sprachmusikalische Texte, sehr leise in der Seele ruhende Nachklänge, als revolutionärer Gesang auf Bühnen… «Was sie aber stets, trotz ihrer formalen Vielfalt eint, ist ihr ganz eigener Anspruch auf Intensität. Man darf auch sagen, ihr unbedingtes Bedürfnis nach Wahrhaftigkeit». – Und: «Wir sind, was wir sind, nur im Austausch mit der Welt und mit denen, die uns begegnen.»
Er ist nicht der einzige, der sich im Begleittext (Vorwort, abschliessender Dank) ausführlich über die Bedeutung von Gedichten geäussert hat. Im Reclam-Bändchen 19444 untersucht der bekannte Sprachwissenschaftler Peter von Matt die Bedeutung der Gedichte unter anderem auch von ihrer Wirkungsgeschichte her. An diese Lektüre erinnere ich mich beim Aufnehmen von Georg Kohlers Vorwort lebhaft, zeigt sie doch eine in manchen Teilen eher abweichende Theorie, was die Eigenständigkeit von Lichtwechsel noch betont.
Die erwähnten Begleittexte des Gedichtbands in Verbindung mit dem Lesen und Nachspüren der Gedichte wecken die Verknüpfung zu den Publikationen des Philosophen Georg Kohler. Im gleichen Verlag (Rüffer & Rub, Zürich) ist 2005 eine Sammlung philosophischer Essais erschienen, unter dem Titel Über das Böse, das Glück und andere Rätsel. Zur Kunst des Philosophierens. Eine herausfordernde, anspruchsvolle Begegnung! Doch sie trägt viel zu einem klareren, intensiveren Verständnis der Gedichte bei. Nicht nur, weil man in diesem Buch einem umfassend in die antiken Autoren vertieften Philosophen begegnet, sondern weil man ergänzend spürt, mit welchen geografischen Orten und Ruinen-Zeugnissen der Antike manche der Gedichte offensichtlich verknüpft sind. (Gewissermassen als Zeichen dafür ist das Titelbild ausgewählt worden.) – Das Vorwort des Philosophie-Bandes schrieb Werner Weber, vermutlich in seinem Todesjahr 2005. Webers Deutung des Philosophierens und des Formulierens schafft eine überzeugende Brücke von Kohlers Philosophie zu Kohlers Gedichten, oder auch umgekehrt von den Gedichten zur Philosophie.
Diese philosophischen Gedichte ohne jeden blassen Mantel der wissenschaftlichen Denkarbeit beeindrucken sehr. Sie zeigen sich als verdichtete Bilder der Begegnung mit der äusseren Wirklichkeit und den inneren Gedanken. Könnten sie nicht auch als eine Art leichtfüssiger Duft- oder Signalwolken des Kontrasts zur Schwere und auch Schwierigkeit der tiefsinnigen und ausführlichen, schwierigen Seinsergründungen sein, wie sie im Philosophieband mindestens teilweise erscheinen? Lichtwechsel – der Titel ist recht aussagekräftig. Wechsel des Lichts, oder auch Wechsel der Blickrichtung? Von innen nach aussen nach innen… Es liessen sich manche der kurzen Bilder geradezu fotografieren; nicht gegenständlich abbilden, sondern, der Bedeutung des Begriffs folgend, Licht aufzeichnen in Reflexen, Lichtfiguren, Lichtstrukturen, Lichtspielen. Das Bild des Gegenstandes, abstrakt oder formal, in Lichtwechsel, wechselnde Lichtbilder sublimiert. Mindestens spüre ich das in der Erinnerung nach der Lektüre so.
Kohlers Gedichte sind eine Art Bekenntnisse der Dankbarkeit für das Leben und für die Gabe, solche Dankbarkeit auch formulieren zu können und zu dürfen, sie auszudrücken, zu gestalten. Sie enthalten sehr viel Persönliches – in einer Sprache sowohl der genauen Bilder als auch des ahnenden Staunens. Berührend sind sie, diese Bilder, mit den Augen aufgenommen ganz real, und dann im Geist verwandelt in neue Bilder, die sich mit dem Wissen und der Erfahrung des eigenen Bewussten und Unbewussten verdichten.
Das – mit den Paratexten – 107 Seiten umfassende Buch enthält auch durchaus realistische Gedichte und, vor allem im Kapitel 9, Unterwegs, Träume und heftige, schreiend grausame Vorstellungen von sozusagen der «anderen Seite» des intensiven Erlebens.
Das Griechische Amphitheater in Taormina (Sizilien) Bild Veronika Allia. (Titelbild)
Georg Kohler, Lichtwechsel. 51 Gedichte. Verlag Rüffer & Rub, Zürich 2020
ISBN 978-3-906304-64-9.
Georg Kohler, Über das Böse, das Glück und andere Rätsel. Zur Kunst des Philosophierens. Mit Vorwort von Werner Weber, Denken mit offenen Rändern. Verlag Rüffer & Rub, Zürich 2005. ISBN 3-907625-22-6.
Peter von Matt, Was ist ein Gedicht? Reclam 19444.