«Aus meiner Sicht sind alte Menschen viel besser aufgestellt als gemeinhin angenommen.» Das sagt Hans-Werner Wahl (Bild), Seniorprofessor und Direktor des Netzwerks Alternsforschung der Universität Heidelberg, im Interview mit Beat Steiger anlässlich des CAS Gerontologie an der Uni Zürich.
Seniorweb: 2017 haben Sie ein Buch veröffentlicht unter dem Titel „Die neue Psychologie des Alterns“. Inwiefern kann die neue Psychologie des Alterns den alternden Menschen in seiner letzten Lebensphase trotz unübersehbarer Abbauprozesse stärken und ermutigen?
Hans-Werner Wahl: In der „Neuen Psychologie des Alterns“ geht es mir darum, dass wir wegkommen von diesem unseligen Defizitbild des älteren Menschen, das noch immer sehr einseitig stark da ist, auch wenn es natürlich in gewissen Grenzen auch seine Berechtigung hat. Aber ich denke, wir haben so viele Befunde, die uns mittlerweile zeigen, dass im Bereich der Lebenszufriedenheit und des Wohlbefindens ältere Menschen sehr gut unterwegs sind. Sie sind fast schon vorbildlich in der Lage, eine hohe Lebensqualität lange aufrecht zu erhalten und auch Krisen zu überstehen. Sie sind im sozialen Bereich eigentlich mit die aktivsten. Sie kennen auch ihre nachbarschaftlichen Netzwerke, sie sind auch, wie es einmal in einer gerontologischen Arbeit hiess, die „keepers of the meaning“; sie kennen beispielsweise die Geschichte und Besonderheiten von Wohnquartieren und kümmern sich, wenn sich Dinge in ihrem Stadtteil verändern. Sie wissen vielleicht am besten von allen Lebensaltern, was ihnen guttut und hilfreich ist, um ein gutes und möglichst stressfreies Leben zu führen. Aus meiner Sicht sind alte Menschen viel besser aufgestellt als gemeinhin angenommen.
Welche Erkenntnisse aus der neuen Psychologie des Alterns können für pflegende Fachleute und Angehörige bei der Pflege und Betreuung in der letzten Lebensphase als Kompass für ihr Handeln dienen?
Ich möchte mich, wie ich es auch im Buch von 2017 über die neue Psychologie des Alterns betont habe, nicht aufspielen und Professionellen oder Pflegenden sagen, wie sie es besser machen könnten. Im Gegenteil: Hochachtung vor dem Job mit alten Menschen, häufig ja mit sehr verletzlichen und oft auch dementen Personen. Trotzdem denke ich, gibt es auch ein paar gute Punkte, welche man als Forscher oder Forscherin mit Professionellen teilen kann.
Es ist erstens wichtig, auch wenn man professionell viel Erfahrung hat, immer wieder sein eigenes Altersbild zu hinterfragen. Wir unterliegen einfach schnell Altersstereotypen und merken es oft gar nicht. Unsere Gesellschaft fördert es auch ein Stück weit. Also gut darauf achten, was in einem selber abläuft, wie schnell man jemanden in eine bestimmte Kategorie einordnet, z.B. als „dement“ als wichtiges Persönlichkeitsmerkmal, statt auf den Menschen insgesamt und etwa auch auf die Reichhaltigkeit seiner Biographie zu achten. Das ist ein guter Rat für uns alle, aber sicher auch dann, wenn man professionell mit älteren Menschen unterwegs ist.
Zum Zweiten: Wir wissen heute so viel über die Heterogenität des Älterwerdens. Dabei ist es sicher nicht einfach, auf der einen Seite als professionell handelnde Person gewisse Regeln und Handlungsrichtlinien zu haben; gleichzeitig sollte man sich immer bewusst sein, dass man eine ganz spezielle und einzigartige Person als Gegenüber hat. Bei einem Demenzkranken beispielsweise ist es unglaublich wichtig zu wissen, was für einen Menschen, mit welchen Lebenserfahrungen, mit welchen familiären Entwicklungen und beruflichen Erfolgen wir vor uns haben. Die extreme kognitive Einschränkung ist natürlich da, aber es steht auch eine unverwechselbare Person vor einem. So glaube ich, man kann auch selber professionell und menschlich viel davon profitieren, wenn man sich wirklich bemüht, die Ganzheit seines Gegenübers zu erkennen und zu würdigen.
Was aus der neuen Psychologie des Alterns ist in der Alterspolitik besonders zu berücksichtigen?
Niemand sagt, es sei einfach, Alterspolitik zu machen und ich habe hier auch kein Patentrezept. Aber was mir auffällt, ist, dass viele alterspolitische Akteure noch von einem tradierten, oft defizitär orientierten Altersbild in ihrem Menschenbild stark bestimmt sind und teilweise auch vorschnell Erfahrungen aus dem familiären Umfeld („Mein Vater ist dement; ich weiss, wie schwer Altern ist“) verallgemeinern. Auch in der Alterspolitik sollte man sich darum kümmern, welche neuen, ermutigenden Befunde aus der Gerontologie heute vorliegen. Evidenzbasiertheit auch in der Alterspolitik!
Eine weitere Botschaft an Alterspolitik: Wir können vieles beim Altern gestalten. Wir können vielfältige Angebote machen, die nicht alle angenommen werden müssen. Wir haben im Bereich der Prävention, gerade wenn es um körperliche Aktivität, allgemeine Anregbarkeit oder um soziales Engagement geht, Befunde, die belegen, dass dies auch längerfristig hilfreich und anregend ist. Man kann durchaus alterspolitische Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass Kompetenzen länger erhalten werden können und Pflegebedürftigkeit hinausgeschoben wird. Es ist aus meiner Sicht heute eine der grossen Aufgaben der Politik, diese Potentiale einer beachtlichen Bevölkerungsgruppe noch mehr zu fördern und mitzugestalten. Ich glaube fest daran, dass sich das letztlich auch „auszahlt“, etwa in Gestalt längerer Lebensqualität, kürzeren Zeiten in Pflegeheimen, längerer Selbständigkeit und einem zumindest leicht abgesenkten Medikamentenkonsum.
Schliesslich leben wir heute in einer Zeit, in der eine engagierte und hochwertige intergenerationelle Politik sehr bedeutend ist. Es muss alles dafür getan werden, unterschiedliche Altersgruppen nicht gegeneinander auszuspielen. Das wäre ein billiger politischer Trick, der letztlich kontraproduktiv ist, Wir haben beispielsweise auch bei Corona weltweit gesehen, wie Versuche, eine Gruppe gegen die andere auszuspielen, zu nichts Gutem führen und das soziale Miteinander gefährden. Da können Wunden und Abgrenzungen entstehen, für die man Jahre benötigt, um sie wieder loszuwerden. Eine vernünftige Politik muss in diesen Tagen im Interesse der Förderung einer generationengerechten, solidarischen Gesamtgesellschaft insgesamt vor allem der Versuchung widerstehen, sich dadurch beliebt zu machen, dass man auf die Kosten einer stark alternden Gesellschaft und die „teuren Alten“ verweist. Denn die heute Jüngeren werden aller Voraussicht nach in nicht allzu ferner Zukunft ein noch viel längeres „Alter“ erleben – und das möchten sie doch möglichst gut gestaltet wissen.
Siehe auch den Beitrag «Eine neue Psychologie des Alterns für die neuen Alten«