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Verletzliche Schönheiten

In «Towards No Earthly Pole» präsentiert das Aargauer Kunsthaus das Schaffen des jungen Westschweizer Künstlers Julian Charrière. Es sind poetische Werke von unwirtlichsten Gegenden im Norden bis zum atomverstrahlten Bikini-Atoll der Südsee.

Julian Charrière (*1987) erforscht entlegene und ungastliche Territorien und drückt seine Erfahrungen in künstlerischem Schaffen aus. Er studierte bildende Kunst in Sierre/VS und in Berlin, wo er am Institut für Raumexperimente mit Olafur Eliasson zusammenarbeitete. Wie Eliasson, dessen Arbeit im Zürcher Kunsthaus wir unlängst auf Seniorweb besprochen haben, interessiert auch Charrière sich für die Auswirkungen menschlichen Tuns auf die Natur und zaubert damit poetische Bilder in die Museen.

Julian Charrière, Flathead – First Light, 2016.

Im ersten Raum sind idyllische Fotografien ausgestellt, palmengesäumte Südseestrände bei Sonnenuntergang, irritierend nur die diffusen weissen Flecken auf den Bildern. Die Serie First Light ist dem Bikini-Atoll im Pazifischen Ozean gewidmet, wo die USA von 1946 bis 1958 mehrere Wasserstoffbomben testeten. Lange Zeit blieb das Gebiet Sperrzone und die vom Menschen unberührte Natur regenerierte sich mit einer grossen Artenvielfalt. Vor vier Jahren besuchte Julian Charrière die heute noch weitgehend unbewohnte Inselgruppe. Es war ihm ein Anliegen, die unsichtbaren Auswirkungen im atomverstrahlten Paradies über Fotografien sichtbar zu machen. Er bestreute das Filmmaterial vor dem Entwickeln mit kontaminiertem Sand, der den Abzug durch die radioaktive Doppelbestrahlung zersetzte. So entstanden die weissen Flecken auf den Fotografien, die nicht nur die Bilder beschädigen, sondern auch die romantischen Vorstellungen vom Südseeparadies.

Julian Charrière, The Blue Fossil Entropic Stories III, 2013.

Charrière begnügt sich nicht nur mit Interventionen im Atelier, auch unterwegs bearbeitet er die Natur, oft unter grossem physischem Einsatz, und das nicht gerade sanft. Etwa als er auf einem Eisberg im Meer vor Island stand und versuchte, diesen während acht Stunden mit einem Gasbrenner zu schmelzen. Die Performance auf dem Eiskoloss zeigte natürlich wenig Wirkung, weist aber als Sinnbild des menschengemachten Klimawandels auf die Auswirkungen des Schmelzens von Eis auf die Umwelt. Mit der dabei entstandenen Fotoserie The Blue Fossil Entropic Stories schuf Charrière sein bislang prominentestes Werk.

Julian Charrière, Not All Who Wander Are Lost, 2019. Foto: rv.

Findlinge faszinierten Charrière von jeher. Materie, bewegt durch die Natur, Felsbrocken, die von Gletschern über Jahrtausende transportiert und weit entfernt von ihrem Ursprungsort abgelegt wurden. Und aus Findlingen kreierte er seine Steinskulpturen Not All Who Wander Are Lost. Dafür greift der Künstler in das Material ein und durchbohrt die Findlinge. Die Bohrkerne reiht er wie ein Förderband aneinander, über welches der durchlöcherte Felsbrocken zu rollen scheint. Die durch Perforation entstandenen Bohrkerne symbolisieren die Gewinnung und den Verbrauch natürlicher Ressourcen – einige der Kerne bestehen zum Teil aus Edelmetallen wie Kupfer, Gold oder Silber. Das Gewicht des Felsbrockens wird durch die Bohrlöcher leichter, aber zu viele Löcher lassen ihn auseinanderbrechen.

Julian Charrière, Future Fossil Spaces, 2013. Foto: rv.

Landschaften mit hohen sechseckigen Steinsäulen erinnern mich an Basaltlandschaften in Island. Die Installation Future Fossil Spaces zeigt aber eine Landschaft mit sechseckigen Türmen aus weiss-braun gemasertem  Salzgestein. Es ist eine angepasste Variante der Installation, die Charrière 2017 in Venedig zeigte. Das Salz stammt aus der grössten Salzwüste der Welt, dem Salar de Uyuni in den bolivianischen Anden. Der ausgetrocknete See birgt über ein Drittel der Lithiumreserven der Erde. Das Leichtmetall wird heute in grossem Stil für Batterien und Akkus unserer elektronischen Geräte abgebaut. Der Künstler fügt zwischen das Salzgestein einzelner Türme transparente Behälter mit farbiger Lithium-Sole ein. Die entstandenen Hohlräume verweisen auf die zerstörerischen Folgen, denn die Gewinnung des Lithiums benötigt Unmengen von Wasser, was in der Region zur Verknappung des Wassers, aber auch zur Senkung des Grundwasserspiegels beiträgt.

Auf dem Rundgang durch die Ausstellung zeichnen sich in einem abgedunkelten Raum die Umrisse eines umhüllten Objekts ab. Es ist eine getarnte Kanone, die auf die allgegenwärtigen militärischen und strategischen Interessen an beiden Polen verweist. Die über acht Meter lange Waffe bezieht sich auf den 1889 publizierten Roman The Purchase of the North Pole (Der Schuss am Kilimandscharo oder Kein Durcheinander) von Jules Verne. Die Geschichte handelt von der Idee, eine Kanone zu erfinden, die nach dem Abschuss die Erdachse geraderücken soll, um die Eismassen an den Polen zum Schmelzen zu bringen, damit ein unbeschränkter Zugang zum Kohleabbau möglich wird. Inspiriert von dieser Geschichte, stellte Charrière das Kanonenrohr aus Bronze her, als Gussform diente ihm der Stamm einer Kokospalme. Die am Boden liegenden «Kanonenkugeln» sind mit Blei ummantelte Kokosnüsse aus dem Bikini-Atoll, die er dort im Jahr zuvor eingesammelt hatte. Sein Projekt nannte er in Anlehnung an Jule Vernes Roman The Purchase of the South Pole.

Julian Charrière, The Purchase of the South Pole, 2017. Installationsansicht Towards No Earthly Pole 2019, MASI Lugano. Foto: Jens Ziehe.

Vibrierender Sound lockt in den nächsten Ausstellungsraum. Beim Eintreten knirscht es unter den Füssen, der mit Bitumen bedeckte Boden erzeugt Unbehagen und es ist stockdunkel. Filmbilder mit diffusen dunklen Landschaften tauchen auf, entfalten sich zu Bergspitzen, die für einen Moment in gleissendem Licht aufleuchten und in breite zerklüftete Eisflächen übergehen. Towards No Earthly Pole entstand in zweijähriger Arbeit, nachdem Julian Charrière 2017 die Möglichkeit hatte, auf einem russischen Forschungsschiff durch die Drake-Passage zu fahren. Überwältigt von den Eindrücken, wollte er einen poetischen Film realisieren.

Videoclip aus: Julian Charrière, Towards No Earthly Pole, 2019. 

Für die Aufnahmen reiste er nach Grönland, Island, in die französischen und die Schweizer Alpen und rückte damit die Polarzonen und die europäischen Gletscher zueinander. Der zweistündige Film wurde aufwändig hergestellt, wie der Künstler erklärte. Er liess jeweils nachts zwei Drohnen über mächtige Eisberge fliegen, die eine war mit einer Kamera, die andere mit einem Scheinwerfer ausgestattet. Sporadisch beleuchtete er die Oberflächen und brachte so die Schönheit und die unendliche Weite, aber auch die Fragilität der gefrorenen Landschaft zum Vorschein.

Titelbild: Ausschnitt aus Towards No Earthly Pol. Filmstill rv.

Alle Bilder (ausser rv): Julian Charrière Courtesy the artist ©2020, Pro Litteris, Zürich.

Bis 3. Januar 2021
Aargauer Kunsthaus, Aarau: «Julian Charrière, Towards No Earthly Pole», mehr hier

Zur Ausstellung erscheint Mitte Oktober eine umfangreiche Publikation: «Julian Charrière, Towards No Earthly Pole», zahlreiche Beiträge u.a. ein Gespräch mit dem kürzlich verstorbenen Klimaforscher Konrad Steffen. Mousse Publishing, Mailand, 2020, ISBN 978-88-6749-434-7

 

 

 

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