Edwin Beeler erzählt im Film «Hexenkinder» die Erinnerungen von fünf Heimkindern in religiösen Einrichtungen, die mit Lebenswille und Widerstandskraft ihr Leben meistern, und schuf einen Hymnus auf das (Über-)Leben.
Edwin Beeler zu seinem Film: «Das Zufügen von Leid „in Gottes Namen“ hat die Jahrhunderte überdauert. Die schwarze Pädagogik bezweckte, Kinder, die man für milieugeschädigt, schwererziehbar oder sittlich verwahrlost hielt, mittels Zucht, Disziplin und religiöser Dressur auf den angeblich alleinseligmachenden Lebensweg zu führen. Man glaubte, Heimkinder seien mit dem Makel der Sünde befleckt, weshalb sie zu ihrem angeblich eigenen Besten der vermeintlich gottgewollten Strafe zugeführt werden müssten: „Wen der Herr liebt, den züchtigt er.“ Im Kostüm christlicher Seelsorge führt die Spur obrigkeitlicher Gewaltstrukturen von der Zeit des Hexenwahns direkt zum Schicksal „fremdplatzierter“ und „zwangsversorgter“ Heimkinder. Sie erlitten ein vergleichbares Schicksal, wie rund 300 Jahre früher die misshandelten und der Hexerei bezichtigen Kinder. Repressive Erziehungsmethoden des 19./20. Jahrhunderts in ihren vielfältigen Ausprägungen sind das Erbe von Hexenhammer und Rutenpädagogik, die Frucht einer moralisierenden Körperfeindlichkeit. Der Film soll an die vergessenen Hexenkinder der frühen Neuzeit erinnern, deren Schicksal sich in den Geschichten der zwangsversorgten Heimkinder unserer Tage in vielen Aspekten widerspiegelt.»
Fünf Protagonisten in der Gegenwart
Sergio Devecchi, 1947, aufgewachsen in Heimen der «Stiftung Gott hilft» in Pura und Zizers
Seit frühester Kindheit war Sergio klar, dass er aus einer sündhaften Familie stammt, weil er als unehelich Geborener von der Mutter verstossen und vom Vater verleugnet wurde. Über sein Leben in den Heimen der «Stiftung Gott hilft» gibt es keine Akten mehr. Er lernte beten und arbeiten, auf Fragen nach dem Warum erhielt er keine Antwort, er hatte zu schweigen und zu gehorchen. Auf seiner Webseite schreibt er, dass er mit seinen sechzig Heim-Jahren, am Schluss als Heimleiter, eigentlich ins Guiness-Buch der Rekorde gehörte.
MarieLies Birchler, 1950, Kindheit im ehemaligen Waisenhaus Einsiedeln
Die Oberin spritzte jeden Abend Weihwasser aus Lourdes über das Bett von MarieLies, weil sie vom Teufel besessen sei, was sie nach jahrelangem Eintrichtern schliesslich glaubte. Jeden Morgen wurden sie mit «In Gott’s Name ufgschtande» geweckt, musste auf den Boden knien und das Morgengebet sprechen. Obwohl die Schwestern sich als «Barmherzige Schwestern vom heiligen Kreuz Ingenbohl» bezeichneten, spürte sie nichts davon, deren Handeln erlebte sie als sadistisch und menschenverachtend. Heute hat sie ihr Leben neu eingerichtet.
Willy Mischler, 1957, Kindheit in Laufen im Kinderheim «Mariahilf», damals Kanton Bern
Willy packten die Nonnen von hinten an den Armen, hoben ihn hoch und traten mit voller Wucht gegen ihn. Wie ein Fussball flog er den Gang hinunter. Oder sie warfen ihn in die Badewanne, drehten das kalte Wasser auf und hielten ihm die Duschbrause ins Gesicht, bis er vor Todesangst fast erstickte. Das war eine der Lieblingsstrafen der Oberin, selbst wenn man selbst nichts angestellt hatte. Eindrücklich seine spätere Berufskarriere und der Umgang mit seinem behinderten Bruder.
Annemarie Iten-Kälin, 1956, Kindheit im ehemaligen Waisenhaus Einsiedeln
Annemarie wurde von den andern Heimkindern ausgelacht, weil ihr Vater sich umgebracht hatte. Sie weinte und erzählte es einer Nonne, die sie jedoch abwies. Später verstand sie deren Reaktion, denn Selbstmord war für sie eine Todsünde. Nach dem Rückzug der Klosterfrauen kam ein Heimleiter, der sie mit einem Gurt schlug. Doch sie glaubten, dass er sie auch gern hatte und ihnen deshalb nah, oft zu nah kam. Eindrücklich, wie sie von ihren frühkindlichen Wunden gesundet ist.
Pedro Raas, 1952, aufgewachsen im ehemaligen Waisenhaus in Einsiedeln
Im Pferdestall des Klosters stand ein Pferd, das gleich hiess wie er, Pedro. Nach der Schule ging er zu ihm und erzählte ihm, was ihn bedrückte. Er umarmte es, spürte seinen Atem. Den Vater hatte er nie gekannt. Seinen Fall schoben die Behörden des Geldes wegen hin und her. Starke Kinder wie er wurden zum katholischen Gehorsam erzogen, ihre aufkeimende Lust stummgeprügelt. Dass er später vom Abt des Klosters um Verzeihung gebeten wurde für die Verfehlungen der Kirche, tat ihm gut.
Opfer in früheren Zeiten
Schlimmer als den noch lebenden fünf Menschen erging es Katharina, einem 11-jährigen Mädchen im Jahre 1652. Es behauptete, es könne Vögel machen. Das sei Teufelswerk, hiess es, sie sei eine Hexe, Gott möge der Kinderseele gnädig sein, der sündige Mädchenkörper müsse verbrannt werden. Der neunjährige Hans Georg Anderhalden wurde 1657 hingerichtet. Unter der Folter gestand er, dass der Teufel zu ihm gekommen sei, und er auf dessen Begehren hin Gott, Maria, die Heiligen und Engel verleugnet habe. – Dass im Film die Geschichten aus dem 20. und dem 17. Jahrhundert zusammengeführt wurden, erklärt der Historiker Markus Furrer als legitim, weil beide Tatbestände auf gleiche oder ähnliche Wurzeln fussen.
Leben! Leben! Nur Leben!
Versuch einer Würdigung
«Hexenkinder» ist ein starkes Dokument versorgter Kinder
Der Film wühlt auf und macht betroffen: Die fünf neuen Geschichten und die älteren Erzählungen, stellvertretend für zahllose andere, verbinden sich zu einem übergreifenden anwaltschaftlichen Dokument über Verbrechen christlicher Kirchen. Die wunderbaren und gleichzeitig verstörenden Bilder und Aussagen regen an, nachzudenken; denn die Methode, aus Heidenkindern Christenkinder zu machen, wirkt bis heute nach.
«Hexenkinder» ist ein Hymnus auf das Überleben im Leben
Wie schon in seinen früheren Filmen zeigt Beeler auch hier die Menschen und ihre Geschichten mit Bildern von Gegenständen, Tieren, Blumen, also Dingen verwoben. Wir können nachempfinden, wie die Erwachsenen ihre Kindheit erlebten, wie sie als Teil des Kosmos Schmerz und Leid erfuhren, lebten und überlebten. Der grossartig gestaltete Film hilft uns mit seinen symbolträchtigen Landschaften und gelegentlichen Wiederholungen, das Erlebte zu verarbeiten und die Tränen der Wut oder Trauer wegzuwischen. Das Zeitdokument wird so vertieft in einer umfassenden Conditio humana und einem Hymnus auf das Überleben, das Leben.
«Hexenkinder» ist wohl Edwin Beelers reifster, schönster und wichtigster Film
Der Film ist, neben Zeitdokument und Hymnus, noch mehr, für jede und jeden etwas anderes. Wegen seiner klugen und sensiblen Gestaltung, die bereits in seinen früheren Filmen zu spüren war: in «Die weisse Arche» (2016), «Arme Seelen» (2011), «Gramper und Bosse» (2005) oder in «Rothenturm» (1984). Edwin Beeler steht für Buch, Realisation, Kamera, Montage und Produktion, Olivier JeanRichard für den Originalton, bei der Filmmontage inklusive Supervision unterstützt von Mirjam Krakenberger, Oswald Schwander, Albin Brun und Guy Klucevsek schufen die Musik, Sara Schär besorgte die entsprechenden Musikrechte, und als Erzähler konnte Hanspeter Müller-Drossaart verpflichtet werden. Mit «Hexenkinder» hat der Schweizer Dokumentarist wohl seinen reifsten, schönsten und wichtigsten Film, vielleicht sein Opus Magnum geschaffen.
Persönliche Nachbemerkung: Meine Zeilen zu diesem berührenden Film widme ich meiner verstorbenen Mutter, die mit mir als ausserehelichem Kind, in einer ähnlichen katholischen Welt, wie sie der Film schildert, leben, überleben und leiden musste.
Fragen an den Filmemacher Edwin Beeler
Regie: Edwin Beeler, Produktion: 2020, Länge: 96 min, Verleih: Calypso Film
Wie heisst das Buch, das als Grundlage zum Film verwendet wurde?
Mfg
Es gibt kein Buch, das als Grundlage für diesen Film diente. Edwin Beeler hat während Jahren das Thema recherchiert und dafür auch viel Literatur verwendet.
In meiner Besprechung und im Anhang gibt es einen Link und weitere Hinweise zur Vertiefung.
Mit freundlichen Grüssen
Hanspeter
Ich feierte vorgestern meinen Neunundachtzigsten Geburtstag. Von diesen 89 darf ich 17 Jahre Schweiz (Romanshorn und Zürich) abziehen.Zwei Jahre verflossen in Wien, wo ich Dank eines Stipendiums viel gelernt und viel mehr Erfahrung gesammelt habe. Mindest 1-2 Jahre weilte ich in Deutschland für Umlauf etc., die mein berufliches Wissen verstârken sollten. Schliesslich verblieb ich in Istanbul, das mir vor allem viel Lebenserfahrung schenkte.
Sie werden nun fragen: Was sollen diese Zahlen und das Ergebnis daraus? Ja eben, sie führten mich zum eigenstândigen Denken. Die Schweiz war meine erste Heimat, der Heimleiter in Wien (des Studentenhauses der Diazöse Wien)nannte mich einen «Wahlschweizer».Das bin ich wohl- ich kann immer noch «Züritütsch» rede. Bei meinem letzten Besuch in Zürich konnte ich dies unter Beweis stellen. Ja eben. Zu wem gehöre ich, wo ist mein eigentliches Vaterland. (Ich wurde nâmlich in Xanthi/Griechenland geboren). Erst nach 86 Jahren konnte ich Xanthi sehen, auch das Tabaklager, wo mein Vater (vor unserem Aufenthalt in der Schweiz) auf Vorschlag seines Chefs Philipp Beer mitsamt seiner Familie in die Schweiz unsiedelte. Die letzte Bleibe sollte eben Istanbul sein. Mit einst rel. wenig, heute aber unendlich vielen Autos. Beinahe jeder hat eins und trâgt dazu bei, die Luft der Stadt zu verpesten. Gott sei Dank haben wir eine Sommerwohnung in der Nâhe (ca. 60 km), wo wir uns nach Belieben dem Schwimmen hingeben können. Das wâre meine «Kurzgeschichte»