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Der Bann ist gebrochen

Die Zürcher Saison-Eröffnung mit Mussorgskis monumentaler Oper „Boris Godunow“ dürfte in die Geschichtsbücher eingehen, denn das Wagnis war kolossal und das Resultat absolut bewundernswert.

Es ist bekannt: Der Corona-Lockdown führte zum Abbruch der letzten Spielzeit, und mit „Boris Godunow“ war zu Beginn der Saison nichts weniger als eine personalintensive und chorgewaltige Revolutionsoper traktandiert, die auch in gewöhnlichen Zeiten alle Ressourcen einer Kulturstätte bindet. Die Salzburger Festspiele warfen genauso das Handtuch wie die Staatsoper Hamburg, aber Zürich hielt am russischen Koloss fest und wagte es, das Orchester und die Chöre vom Probesaal am Kreuzplatz synchron einzuspielen, sodass nur die Solisten die Bühne bevölkerten. Ellenlange Leitungen mussten gelegt, Audio- und Video-Übertragungen konfiguriert, Mischpulte, Monitore, Kameras, Lautsprecher und 60 Mikrofone installiert werden – und das Resultat ist absolut verblüffend.

 

Seelentröster Alkohol: ihn hat auch Modest Mussorgski hingerafft / Fotos © Monika Rittershaus

Eine Leinwand ermöglichte einen kurzen Einblick in die corona-bedingt versetzt platzierten Orchester- bzw. Chor-Formationen und die Begrüssung des ukrainischen Dirigenten Kirill Karabits. Daraufhin blieb nur der Blick in den mit High-Tech-Apparaturen bestückten Orchestergraben, während die Solisten auf kleinen Bildschirmen das Timing mitbekommen. Welch betörende Perfektion in der Wiedergabe! Die Philharmonia Zürich hatte eine Sternstunde an filigranen Schattierungen und klangsatt aufwallendem Gepränge, die Chöre eine mustergültige und fesselnde Präsenz (Einstudierung: Ernst Raffelsberger). Was einzig fehlte, war die klanglich aufgefächerte Raumtiefe und differenziertere Lautstärken in den Tutti-Passagen. Hier wird in den Folge-Aufführungen an den Mischpulten sicher noch etwas justiert werden können.

Barrie Kosky als Magier für besondere Herausforderungen 

Wenn ein Regisseur es schafft, solche Herausforderungen anzunehmen, dann sicher Barrie Kosky, seines Zeichens auch Intendant an der Komischen Oper Berlin, der in Zürich 2016 Verdis „Macbeth“ in einer atemberaubenden Inszenierung auf die Bretter zauberte. Die Parallelen zum Boris sind offensichtlich. In beiden Opern bangen erfolgsbesessene Usurpatoren um ihre Macht und räumen aus dem Weg, was ihnen gefährlich werden könnte. Hier ist es der Meuchelmord am kleinen Zarewitsch Dimitri durch Boris’ Handlanger. Der Kunstgriff im „Macbeth“, den Chor seitlich als drohende Kulisse und Albtraum des Potentaten zu platzieren, funktioniert auch bei Mussorgski, denn das russische Volk ist ja eh nur hungernde Staffage und verzweifelter Bittsteller. Zudem sind Choristen bekanntlich keine ausgebildeten Schauspieler und singen weit überzeugender, wenn sie ihre Kernkompetenz abrufen können.

Während Kosky die trostlose Einsamkeit von Macbeth mit Raben-Robotern untermauerte, heben im Boris die Bücher buchstäblich an zu singen, und zwar vierstimmig! Das muss man gesehen und gehört haben, ein köstlicher Einfall. Dass der Tausendsassa die Vielzahl von Sänger-Darstellern glaubhaft, rollendeckend und bis zur Schmerzgrenze eindringlich führen kann, belegt er einmal mehr.  

Der Bühnenbildner Rufus Didwiszus setzt die Handlung in eine klaustrophobisch anmutende Bibliothek mit Saalfluchten von Druckerzeugnissen. Wer die Verfilmung von Kafkas „Schloss“ in Erinnerung hat, weiss noch um die ins Unermessliche wachsenden Bücher- und Zeitungstürme. Tausende von mausgrauen Folianten schlummern vor sich hin, die  tonnenschwer auf Russlands Geschichte lasten.

Boris Godunow (hier mit Sohn Fjodor) krallt sich mit allen Mitteln an die Macht

Die Inszenierung verzichtet auf jeglichen Zeremonienpomp, wie man ihm 1984 durch Götz Friedrich im Hallenstadion mit dem unvergessenen Matti Salminen noch begegnen konnte. Aber das wäre ohnehin nicht nach dem Gusto Barrie Koskys gewesen. Die Krönung im Moskauer Kreml wird gerade mal vom einsamen Hofnarren (hier: Gottesnarr) Spencer Lang vollzogen. Der goldbestickte Mantel des tragischen Regenten hängt ihm wie eine zu grosse Schlutte am Leib. Aber da der Chor ohnehin am Kreuzplatz singt, wird aus der Not eine sinnfällige Tugend.

Da man sich für die authentische Partitur Mussorgskis, inklusive hinzugefügtem Polenakt, entschied, endet die Oper auch nicht mit dem Tod des Zaren, sondern mit einem prophetischen Abgesang auf die düstere russische Geschichte durch den Gottesnarren. Eine gewaltige, bedrohliche Glocke hängt über dem Abgrund, in den letztlich auch Godunow stürzt. Der falsche Dimitri wird zum neuen Zaren ausgerufen – Hoffnung tönt anders. Doch gerade der ungeschminkte Zugang zum Autodidakten Mussorgski, der die Vorlage Puschkins auch selbst bearbeitete und eine kompromisslose und zukunftsweisende Handschrift offenbart, trifft die russiche Volksseele stimmiger als noch so gut gemeinte Bearbeitungen durch Rimski-Korsakow und Schostakowitsch. Der Eigenbrötler starb 1881 bereits 42-jährig an seiner Alkoholsucht und hinterliess Lücken in der Instrumentierung.

Michael Volle ist zurzeit einer der gefragtesten Baritone weltweit, ein weiterer triftiger Grund, an diesem Werk festzuhalten. Seine kernig-voluminösen Klangfarben und seine verkörperte Zerrissenheit nehmen von Anfang an gefangen. Wie denn überhaupt die Besetzung sämtlicher Partien Weltklasseformat aufweist: begonnen mit dem Mönch Pimen von Brindley Sherratt, dem Schurken Schulski (John Daszak), Grigori als falschem Dimitri (Edgaras Montvidas) und dem Strippen ziehenden Jesuiten Rangoni (Johannes Martin Kränzle), dann übergehend zur zauberhaften polnischen Prinzessin Marina, verkörpert durch Oksana Volkova (nur schon ihre Robe eine Augenweide) und zu Boris Tochter Xenia (Lina Dambrauskaité) bis zu kleineren Partien mit Irène Friedli als Amme, Alexei Bortnarciuc und Iain Milne als Bettelmönche und dem Duma-Abgeordneten Schtschelkalow (Konstantin Shushakov). Solisten des Tölzer Knabenchors teilen sich schliesslich in die Rollen von Sohn Fjodor.

Das Opernhaus Zürich hat die Nagelprobe mit Bravour bestanden. Es liegt nun an den hungrig gewordenen Enthusiasten und weiteren Musikkreisen, das gelungene Wagnis des Hauses zu honorieren und die Kassen zu stürmen. Das Schutzkonzept funktioniert, das Erlebnis entschädigt auch für die verordnete Maskentragepflicht. Der Bann ist gebrochen.

Weitere Vorstellungen: September 23, 26, Oktober 9,16, 20

Oper für alle digital:

  • 25.9., 19.00 „Die Csárdásfürstin“
  • 26.9, 18.30 „Boris Godunow“
  • 27.9., 20.00 „Maria Stuarda“

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