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Wird Sterben immer mehr zu einer Verhandlungssache?

Im Rahmen des CAS Gerontologie der Uni Zürich zum Thema «Lebensqualität in der letzten Lebensphase – Palliative Begleitung, Pflege und Medizin» interviewte Seniorweb Dr. med. Roland Kunz, Facharzt für allgemeine  innere Medizin mit den Schwerpunkten Geriatrie und Palliativmedizin.

Seniorweb: Wird Sterben immer mehr zu einer Verhandlungssache zwischen Betroffenen, Angehörigen und dem professionellen Behandlungsteam?

Dr. Roland Kunz: Ja, es ist eine Realität, dass Sterben oft nicht mehr einfach ein Schicksalsschlag ist, der einen irgendwann ereilt, wie das im Mittelalter und bis weit ins letzte Jahrhundert der Fall war. Aufgrund der enormen wissenschaftlichen und technologischen Fortschritte der Medizin kann der Sterbeprozess durch passende Massnahmen verlängert werden. Eine Lebensverlängerung ist fachlich gesehen oft machbar, ob dies die Lebensqualität fördert, ist eine andere Frage. Deshalb muss man immer häufiger die Entscheidung treffen, ob man einen Menschen sterben lassen oder sein Leben verlängern will.  Bei der Frage, wann man das Sterben zulassen soll, ist der Wille des Betroffenen massgebend.

Wie sollen Sterbenskranke wissen, wie sie sterben wollen? Was ist die optimale Zielsetzung, die sich Betroffene in dieser Entscheidungssituation setzen können?

Das ist eine sehr wichtige Frage. Wann ist der richtige Zeitpunkt im Leben, um sich mit dem eigenen Sterben auseinanderzusetzen? Die Erfahrung zeigt, dass viele Menschen diese Frage heute verdrängen. Das ist auch verständlich und ermöglicht in gewissem Sinne ein sorgloses Leben. Auf der andern Seite gehört es zur Lebensreife, dass man auf das bisherige Leben zurückblickt und sich fragt, was man noch vom Leben erwartet und dabei auch das Ende des Lebens in den Blick nimmt.

Soll man sich mit dem eigenen Sterben befassen, wenn man 20, 30, 40 ist oder beispielsweise erst nach der Pensionierung?

Ich finde es gut, wenn man immer wieder mal im Leben sich diesen Fragen stellt, auch in jungen Jahren. So hatte ich immer wieder Maturanden, die sich bei mir gemeldet haben und über das Sterben eine Maturaarbeit schreiben wollten, weil jemand aus ihrem Umkreis gestorben war. Ich stelle auch bei Medizinstudentinnen und -studenten fest, dass sie sehr offen und engagiert über dieses Thema diskutieren.

Sterben ist ja meistens kein einsamer Prozess. Man ist eingebettet in eine Gesellschaft, hat Angehörige, ist mit Fachleuten in Kontakt usw. Wie soll man Angehörige und Fachleute einbeziehen?

Wichtig ist, dass man immer wieder einen gemeinsamen Boden findet. Sterbende, Angehörige und das Behandlungsteam sollten regelmässig zusammensitzen und sich fragen: «Wo stehen wir eigentlich? Was war? Was erwartet uns? Welche Entscheidungen könnten auf uns zukommen?» Wenn man sich ausgetauscht hat, ist es wichtig, dass die Vorstellungen der Patientin/des Patienten erste Priorität haben und wir ihre Wünsche möglichst gut umsetzen können.

Was soll man tun, wenn Sterbende dem Gespräch kaum mehr folgen und sich nicht mehr einbringen können?

Rein juristisch muss man sich dann fragen, wie Betroffene sich früher dazu geäussert haben und ob eine Patientenverfügung vorliegt. Wenn das nicht der Fall ist, dann versucht man zusammen mit denen, welche den Sterbenden am besten kennen, ein Bild zu erstellen über sein Leben und seine Vorstellungen. Hat er etwa beim Ableben eines Bekannten gesagt: «Das möchte ich auf keinen Fall» oder «So möchte ich auch mal gehen». Das ergibt Mosaiksteinchen aus seinem Leben, die möglicherweise erlauben, den mutmasslichen Willen des Betroffenen zu rekonstruieren, aufgrund dessen man die weiteren Massnahmen beschliessen kann.

Angenommen, der Patient ist nicht mehr ansprechbar, was ist aus Ihrer Sicht die optimale Haltung der Angehörigen?

Am besten ist – und das ist auch die grösste Herausforderung, dass man als Angehöriger die eigenen Wünsche, Werthaltungen und Ängste trennen kann von dem, was der Patient vermutlich wünscht. Man sollte nichts in den Patienten hineinprojizieren, sondern sich möglichst gut in ihn einfühlen und schliesslich so entscheiden, was der Sterbende bei vollem Bewusstsein wohl gewünscht hätte.

Sie sagen, Geriater sollten einen ganzheitlichen Ansatz haben im Unterschied zu Spezialärzten, die aufgrund einer Diagnose eine Therapie vorschlagen.

Wichtig ist, dass man ein möglichst umfassendes Bild eines Patienten hat, dass man nicht etwa aufgrund eines Laborwerts oder eines Röntgenbilds eines Organs entscheidet, was jetzt zu tun ist. Wichtig ist, wie wir sagen, dass man nicht Befunde behandelt, sondern Patienten als Persönlichkeiten mit ihrer Lebensgeschichte, ihrem sozialen Umfeld und ihren Präferenzen wahrnimmt. Wenn wir viel wissen von einem Betroffenen, dann können wir ihm am ehesten so begegnen, wie er sich dies wünscht und können versuchen seine Wünsche umzusetzen. Dabei werden auch Angehörige in den Entscheidungsprozess und in die Planung, wie es weiter gehen könnte, einbezogen. Haben Angehörige, Partnerinnen oder Partner genügend Ressourcen, um den Patienten allenfalls wieder nach Hause zu nehmen, wenn der Patient zuhause sterben möchte? Manchmal geht es auch darum, die Autonomie des Patienten gegen die Autonomie der Angehörigen abzuwägen.

Leben wir aufgrund der medizinischen Errungenschaften in einem neuen Zeitalter der Sterbekultur?

Ich denke, man muss es so sagen. Sterben ist nicht mehr etwas, das sich bloss ereignet oder das von aussen kommt, von Gott oder dem Schicksal oder so. Sterben muss heute in vielen Fällen bewusst zugelassen werden. Die Medizin hat immer mehr Möglichkeiten, das Sterben eines Patienten zu verhindern oder hinauszuzögern. Auf lebensverlängernde Massnahmen zu verzichten oder sie abzubrechen, erfordert bewusste Entscheidungen.  Was uns herausfordert, ist natürlich die Frage, wer entscheidet. Wir als Ärzte wünschen uns, dass die Patienten möglichst stark die Eigenverantwortung wahrnehmen und die Entscheidungen treffen, denn wenn die Angehörigen entscheiden müssen, wird es noch belastender. Es ist ein Appell von mir an jeden und jede in jedem Alter, dass man so viel Eigenverantwortung übernimmt und mindestens in groben Zügen sagt, was man wünscht und was nicht. Das kann dann als Orientierungshorizont für Angehörige und Ärzte dienen.

Die Eigenverantwortung soll der Sterbende wohl übernehmen, bevor er ganz schwach wird. Die Eigenverantwortung hört ja irgendwann auf, und der Sterbende muss sich dem Sterbeprozess hingeben.

Genau! Diese Weichenstellungen kommen immer wieder vor im Krankheitsverlauf, und es ist wichtig, dass man sich frühzeitig darüber Gedanken macht und auch mit der Familie bespricht, wie man es haben möchte. So werden Familienmitglieder nicht überrumpelt von einem Entscheid, den man trifft. Ist der Entscheid mal getroffen, geht es darum, den Patienten auf seinem weiteren Weg zu begleiten. Ja, man kommt dann als Sterbender immer mehr in eine passive Rolle, in der Sterben passiert und wo man von den begleitenden Menschen nicht zurückgehalten werden soll.

Geht es von ärztlicher Seite in dieser Phase darum, das Sterben vor allem durch Schmerzlinderung einigermassen erträglich zu machen?

Das ist ein ganz wichtiger Punkt, dass Leute nicht meinen, es werde nichts mehr getan, wenn man sich gegen lebensverlängernde Massnahmen entscheidet. Man kann in der Sterbephase immer noch viel tun, um die Lebensqualität möglichst gut zu erhalten, den Schmerz und andere Symptome zu lindern. Das gehört zum Kernauftrag der Palliative Care.

Zum Schluss eine persönliche Frage: Wie gehen Sie damit um, dass Sie Tag für Tag ganz nah von sterbenden Menschen umgeben sind und sie in den Tod begleiten?

Meine Arbeit liegt nicht jedem, und ich höre immer wieder von Kolleginnen und Kollegen, die sagen: «Das könnte ich nie». Auch Mitarbeitende wechseln gelegentlich nach zwei Jahren den Arbeitsbereich und sagen: Das war wichtig für mich und sehr interessant, aber jetzt muss ich wieder mal was anderes tun. Bei mir war es auch so, dass ich mich nicht immer nur mit Sterbenden befasst habe. In der Geriatrie gibt es ja auch Patientinnen und Patienten, die sich erholen und die man in dieser Erholungsphase ärztlich begleiten kann. Auf der andern Seite kann ich mir kaum vorstellen, dass es eine ärztliche Tätigkeit gibt, die so viel Tiefgang hat. Wenn ein Mensch auf dem Sterbebett ist, gehen alle Attribute verloren. Dann spielt es keine Rolle, ob jemand Direktor oder Professor gewesen ist, dann zählt der Mensch als Person und das gibt so viele extrem tiefe Erfahrungen und berührende Beziehungen, auch wenn diese letzte Phase vielleicht nur zwei Wochen dauert. Das ist wirklich erfüllend und ich kann nur sagen, dass ich jeden Tag gerne arbeiten gehe, obwohl ich oft mit schwierigen Lebenssituationen zu tun habe. Ich erlebe meine Tätigkeit als wirkliche Lebensschule.

Schön, wenn ein Beruf eine Lebensschule ist.

Ich bin dankbar und denke oft, da könnte ja auch ich in diesem Bett liegen… und wenn ich dann nach der Arbeit nach Hause gehe, in den Himmel schaue, die Wunder der Natur betrachte, bin ich zutiefst dankbar, dass ich das noch geniessen darf.

Literatur:

Heinz Rüegger, Roland Kunz: Über selbstbestimmtes Sterben. Zwischen Freiheit, Verantwortung und Überforderung. Zürich, August 2020. ISBN 978-3-906304-70-0


Dr. med. Roland Kunz ist Facharzt FMH für Allgemeine Innere Medizin, Schwerpunkte Geriatrie und Palliativmedizin; bis 2020 Leiter Departement Akutgeriatrie und Rheumatologie, Chefarzt Universitäre Klinik für Akutgeriatrie und Zentrum für Palliative Care im Stadtspital Waid und Triemli (Zürich); Dozent für Palliative Care an der Universität Zürich und an der ETH; Ko-Präsident der internationalen Fachgesellschaft für Palliative Geriatrie FGPG.

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3 Kommentare

  1. /Users/paulscharer/Desktop/Sehr geehrter Herr Steiger
    Das Sterben berührt jeden Menschen in unterschiedlichsten Lebensphasen. Enge Verwandte, liebe Freunde mit denen man viel wertvolle Zeit verbringen durfte, gehen für uns, mit ihrem Sterben verloren. Sind sie nun verloren, oder gehen sie in eine Welt ein, die für alle Menschen und Lebewesen, mit den unterschiedlichsten Lebensphilosophien und Möglichkeiten, ein echter Neubeginn in einer völlig neuen Weiterexistenz ist? Konfessionen aller Art spekulieren über Sinn und Zweck des Sterbens und Weiterlebens. Aufgrund unterschiedlichen Ansichten darüber, wird sogar Krieg geführt. Viele Anhänger von bestimmten Weltanschauungen sterben heute noch aufgrund von Ansichten und der vernichtenden Macht anderer Lebensphilosophien. Ich selber glaube an ein Weiterleben in einer Welt, in der alle Lebewesen in ihrem wirklichen Potential erkannt und entsprechend Lebenserhaltend und Lebensfördernd, eingesetzt werden und damit ein für alle friedliche Existenz ermöglichen.

  2. Herzlichen Dank für diesen wirklich guten Artikel mit vielen Denkanstößen.
    Wir haben viel über das Sterben gesprochen, weil mein Vater unglücklich darüber war, dass man ihn nach einem Herzinfarkt ins «Leben» zurückholte. Danach erfuhr er zwei entsetzlich lange Jahre viele Schmerzen, Operationen und Ängste, bevor er endlich seine Ruhe fand. Meine Schwester lehnte Chemos ab und wollte in einem Hospiz menschlich begleitet sterben, doch ihr Mann (er stand in der Patientenverfügung) und die Ärzte versuchten bis zum Schluss, ihr Leiden zu verlängern, was ihnen drei Monate lang gelang.

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