Das Buch vom ungeliebten Kind, das über Wege und Irrwege zur Frau reift, die ihre Träume als Wirklichkeit erlebt.
Schon beim ersten Erscheinen 1940 bei der «Guilde du livre», Lausanne (und 1942 allgemein im Buchhandel greifbar bei Editions Stock, Paris) erregte es begeistertes Aufsehen, das Buch von Cilette Ofaire, L’Ismé. Es handelt sich dabei nicht um die erste literarische Veröffentlichung der 1891 im Val de Travers zur Welt gekommenen Frau, die das Aufsehen der Sachverständigen und die Begeisterung der Leserinnen und Leser weckte. Ismé wurde aber im Verlauf der Zeit zur mit Abstand bekanntesten Erzählung der Literatin, die vorher Malerin war und ihr Werk mit zahlreichen Zeichnungen im persönlichen Stil illustrierte.
Ismé – eine Erzählung?
…oder vielmehr ein Bericht über eine weite Reise in einer Welt von Wirklichkeiten, Sehnsüchten nach Freiheit und intensivstem Erleben? Die Autorin nennt ihr Werk einen Roman, was man an vielen Motiven und Themen durchaus als solchen erkennt. Zugrunde liegt ihm die einmalige Seereise längs den Küsten der iberischen Halbinsel. Der Dampfer heisst Ismé und wird von der Kapitänin Cilette Ofaire gesteuert und geführt und von einem Heizer und einem bis zeitweise zwei weiteren Matrosen auf Fahrt gehalten. Höhepunkte und Gefahren, Freude und Ärger kommen vom Meer und von Menschen, von warmherzigen Freunden und kalt berechnenden und betrügenden Beamten. Cilette Ofaires Buch wird zum Gefäss, das die Auseinandersetzungen mit der Nähe und dem Fremden, dem Schönen und dem Bedrohlichen, dem Wundervollen und dem Geheimnisvollen am Himmel und im Wasser Raum, Farbe und Leben gibt. Es zeigt eine Frau – einen Menschen – dem gegeben ist, Erfahrungen aufzunehmen, Schönheiten, Farben und Formen zu erkennen und in unnachahmlicher Sprache, in immer neuen Bildminiaturen zu schildern, aufleben zu lassen.
Es ist ein grosses Verdienst der Übersetzer M. und W. Grossenbacher, deren deutsche Fassung erstmals 1948 bei Hallwag in Bern erschien, dass sie diesen sprachlichen Reichtum an manchmal fast lyrischen, manchmal dramatisch bewegten Bildern und Erzählminiaturen aus dem französischen Original in deutscher Sprache zu bewahren vermochten. Schon 1988 publizierte Charles Linsmayer als Band 3 der von ihm betreuten Reihe «Reprinted by Huber» diese von ihm überarbeitete Fassung. Bereichert mit dem gezeichneten «Bordbuch» der Künstlerin und Autorin, und ergänzt mit einer ausführlichen Biographie von Cilette Ofaire, erscheint Ismé, Sehnsucht nach Freiheit nun im September 2020 neu als Nr. 38 der Reihe «Reprinted by Huber», der traditionellen Reihe mit Werken bekannter und weniger bekannter Schweizer Autorinnen und Autoren, welche jetzt vom Th. Gut Verlag, Zürich herausgegeben wird. Als besonderer Glücksfall erscheint das Buch gleichzeitig und in gleicher Ausstattung in französischer Sprache bei den Éditions de l’Aire, Vevey. Die Biographie von Charles Linsmayer liest man dort in der französischen Übersetzung von Camille Luscher.
Das «Journal de bord» – eine wertvolle Bereicherung des Buchs
Es darf als bibliophile Kostbarkeit gelten, das mit kleinen, hieroglyphisch stilisierten Figuren gezeichnete Journal de bord, das Cilette Ofaire auf ihrer Schiffsreise und später auch an ihrem Wohnort geführt hat. Wenige Zahlen und kurze Wörter stehen neben visuellen Mini-Botschaften. Ständen die Zahlen und Buchstaben in einer fremden Schrift, in nicht arabischen und lateinischen Formen auf dem Papier, es könnte an eine Art minimierter archaischer Höhlenzeichnung gemahnen. Jedenfalls setzt das Staunen beim aufmerksamen Betrachten dieser Abfolge von täglich feingestrichelt gezeichneten Vorgängen und Ereignissen nie ab. Die Erlebnisse, die vielfältigen Aktivitäten; das Wetter, die Krankheitsfälle – einfach das ganze Leben Tag für Tag an Bord und später in Haus und Garten teilt sich in Bildern mit, und man fühlt Bedauern mit dieser so visuell erlebenden und gestaltenden Frau, die wegen verminderter Sehkraft das Malen aufgeben musste. Doch versteht man nach dem «Lesen» dieses Bilder-Bordbuchs spontaner, mit welcher sprachlichen Kraft und Ausdrucksgenauigkeit Cilette Ofaire in ISMÉ immer wieder bildhafte Miniaturen von Erscheinungen, Farben, Vorgängen, Formen und Bewegungen der See und des Himmels mit den Schilderungen des Romans zu verweben vermag.
Die Biographie als Schlüssel zum Verständnis
Das Leben dieser Frau ist so einmalig wie ihre so abenteuerliche und traumhafte, mit ungebundener Kraft und Sehnsucht nach Leben und Freiheit unternommene Fahrt mit der «Ismé», dem Dampfer, der ihr ebenso schicksalshaft zu eigen geworden ist wie alles, was mit dem Schiff zusammenhängt. Charles Linsmayer schildert dieses nicht alltägliche Leben respektvoll, seinen gründlichen Studien und Recherchen im vorhandenen Material und zahllosen Gesprächen mit manchen Kontaktpersonen folgend. Er beginnt mit einer Art Bibliografie, die aus zitierten Pressezeugnissen und der umfangreichen, allgemein positiv gefärbten Rezeptionsgeschichte von Cilette Ofaires Werken eine vielseitige und produktive Autorin charakterisiert. Das Eigentümliche am Roman Ismé klärt sich, wenn man die Lebensgeschichte gesamthaft überblickt.
Am 13 Januar 1891 wurde Cécile Houriet als Tochter und Nichte in eine vermögende Industriellenfamile in Couvet geboren. Von ihrer Stiefmutter, der Schwester ihrer allzu früh verstorbenen Mutter, feindselig abgelehnt, litt Cécile an einer unzumutbar harten Kindheit. Ihr unbändiger Drang nach Freiheit, Selbständigkeit und Unabhängigkeit führten sie über die Handelsschule an die Gewerbeschule in Basel mit dem Ziel, Malerin zu werden. Ihre Krankheit nötigte sie zu einem längeren Kuraufenthalt in Davos. Die wichtigsten Erfahrungen, die sich auch in ihrem literarischen Werk immer wieder niederschlagen, sind die unbedingte, hingebende Liebe zu ihrem Gatten Charles Hofer – Ofaire! – mit dem sie zwanzig Jahre lang verheiratet war; mit einer masslos glücklichen, bewegten und hingebenden Liebe, die man objektiv dennoch als unglücklich bezeichnen müsste. Die übergrosse Aufopferung seiner Frau, die dem etwas unsteten und unüberlegt handelnden Schwärmer materiell das Leben sicherte, behielt für sie jederzeit den Sinn. Immer neu glaubten beide an einen Neuanfang, vor allem dann mit dem Erwerb zuerst eines kleinen Flussbootes, später dem grösseren Dampfer Ismé. Doch die Trennung war nicht zu vermeiden, und die Verlassene macht sich allein auf ihre abenteuerliche Reise. – Nochmals, spät in ihrem Leben, als die «Ismé» schon verloren war, hat sie, das einst ungeliebte Kind, sich nochmals blind verliebt und verloren an eine zwielichtige, ausbeuterische Gestalt. Auch dieser Mann ist wieder aus ihrem Umfeld verschwunden.
An den Folgen ihres Krebsleidens stirbt sie am 11. Dezember 1964.
Cilette Ofaire, wie sie sich seit ihren literarischen Erfolgen nennt, hat jedoch eine echte, wahre und warme Liebe gekannt und ausgeübt. Allerdings ist deren Form keine erotische, sondern eine zutiefst menschliche, verantwortungsbewusste. Diese Liebe trifft man auf fast jeder Seite des Romans Ismé an. Sie gilt vor allem ihrem Heizer Ettore, seiner Frau Dalgy und deren auf dem Schiff geborenen Söhnlein. Das hier auftretende formale Dreieck mit der Kindheit als gehasstes Mädchen, dann einer trotz ihres Erfolges von der wohlhabenden Familie (mit Ausnahme der Tante und Patin) geächteten Frau und schliesslich der umsichtigen, in Liebe um ihre Mannschaft besorgten Kapitänin – dieses Dreieck ist eine Art Nebenmotiv von Ismé und ein ergreifendes Zeugnis, was wirkliche Liebe im Verbund mit Selbständigkeit, Sehnsucht nach Freiheit, Gewissenhaftigkeit, Können und umsichtiger Alltagsgestaltung und -erfahrung an Freude und Verlässlichkeit bewirken kann, für alle Betroffenen, den Vertrauten wie den vorübergehend Nahestehenden. Diese Erfahrung ist die ausserordentlich lesenswerte Botschaft des ganzen Buchs.
An der denkwürdigen Buchvernissage am 27. September im Berner Theater an der Effingerstrasse weckten Heidi Maria Glössner und Charles Linsmayer nicht nur Neugierde auf das Buch, sondern vor allem bereits ein Gefühl von der einzigartigen Stimmung des Romans und von der Ausstrahlung der Persönlichkeit dieser Autorin.
Deutsch: Cilette Ofaire, Ismé, Sehnsucht nach Freiheit. Mit dem gezeichneten «Journal de bord» Mit einer Cilette-Ofaire-Biographie von Charles Linsmayer. Th. Gut Verlag, Zürich, 2020. («Reprinted by Huber «Nr. 38). ISBN 978-3-85717-284-7.
Französisch: Cilette Ofaire, L’Ismé. Nouvelle édition avec une partie du «journal de bord». Postface de Charles Linsmayer. Éditions de l’Aire, Vevey, 2020. ISBN 978-2-88956-147-6.